ABIGAIL DEAN: GIRL A
Als Alexandra Lex Gracie auf der Straße gefunden wird, ist sie völlig
verdreckt, ausgemergelt und mehr tot als lebendig. Es grenzt an ein Wunder, dass die
15-Jährige die Flucht aus dem nahen Elternhaus geschafft hat. Was sie damit lostritt,
offenbart sich als mönströse Geschichte von vorsätzlicher Verwahrlosung und
Kindesmisshandlung mit gleich sieben Opfern.
Was Abigail Dean in ihrem unentrinnbar fesselnden Debütroman niedergeschrieben hat,
klingt in seiner unfassbaren Niedertracht als Ausgeburt einer kranken Fantasie. Vorbild
war jedoch der ganz reale und noch grausamere Fall der amerikanischen Eheleute David und
Louise Turpin, die 2019 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie zwölf
ihrer 13 Kinder über lange Zeit gepeinigt hatten.
Girl A heißt der Titel und gemeint ist damit Ich-Erzählerin Lex, deren Name
wie der ihrer sechs Geschwister anonymisiert worden war. 15 Jahre nach jener Nacht, als
sie dem Haus des Horrors entkommen ist, wird sie zu dem englischen Gefängnis
gerufen, in dem Mutter Deborah jetzt an Krebs verstorben ist. Lex, die inzwischen als
erfolgreiche Anwältin in New York arbeitet, soll die Testamentsvollstreckung
durchführen.
Das verlassene Horrorhaus und 20.000 Pfund sind das Erbe und Lex müsste dazu ihre
Geschwister kontaktieren. Was einerseits nicht so einfach ist, da man die Kinder damals
aus psychologischen Gründen getrennt zur Adoption gegeben hat. Und andererseits reißt
der Weg zu ihnen nicht nur bei Lex nie ganz verheilte Wunden wieder auf.
Kapitel für Kapitel führt die Erinnerung in die Familienhölle zurück, die Vater
Charlie über etliche Jahre in religiösem Wahn aufgebaut hatte. Und wird hier
ausschließlich aus der Sicht seiner Opfer erzählt, zumal er sich damals gleich nach Lex'
Flucht umgebrachte. Ohne Selbstmitleid und mit genau jener emotionslosen Nüchternheit
schildert Lex, die sie das Alles überhaupt hat überstehen lassen.
Schritt für Schritt steigerte sich die Drangsal, und mit jeder neuen Geburt eines Kindes
vergrößerte sich das Elend. Litten die Kinder zunächst noch unter der Scham, hungrig,
ungewaschen und zerlumpt zur Schule zu müssen, weil der Vater den Wasserverbrauch
drastisch reduzierte, folgte bald die Beschränkung auf Heimunterricht mit fast nichts als
Bibelstunden.
Auch die Nahrungszufuhr sank auf Hungerrationen und als der brutale Tyrann dann auch noch
mit seinem hehren Plan scheiterte, Prediger einer eigenen Gemeinde zu werden, begann die
Fesselzeit. Hatte es davor noch ein seltsam verstörendes Familienfoto gegeben, folgte
alsbald die Kettenzeit und die nicht nur nachts an ihre Betten gefesselten Kinder waren in
all ihrem Unrat nicht mehr porträttauglich.
Immer wieder machen die so sachlichen Schilderungen des Martyriums fassungslos. Wobei die
willfährige Mutter dem Schinder sogar noch zur Hand ging. Selbst die geringe Hoffnung auf
Ethan, den älteren Bruder, zerschlug sich bald, denn zu mutlos fügte er sich ins
unmenschliche System, obwohl er sich sogar ziemlich frei bewegen durfte.
Stück für Stück werfen die Begegnungen mit den Geschwistern neue Bilder auf, denn jedes
Kind hat anders gelitten. Und man begleitet Lex in ihrem heutigen Tagesablauf, hört von
ihren Macken, die auch die kluge Psychiaterin Dr. Kay über die Jahre nur lindern konnte.
Alle Geschwister haben durch die Gewalttaten nicht nur körperliche Verwundungen
davongetragen.
So kann es nicht verwundern, dass sich Lex kühl und arrogant gibt und das selbst ihren
liebevollen Adoptiveltern gegenüber. Ihr Liebesleben ist verkorkst wie das von Bruder
Ethan. Auf dessen Hochzeitsfeier das Geschehen zusteuert werden sich die
Geschwister gemeinsam treffen? Und wie können sie mit einem Wiedersehen und dem
gemeinsamen Erbe umgehen?
Schon damals gab es Unterschiede der Behandlung und später des Umgangs mit den Folgen.
Sie sind Geschwister, doch von fragilem Miteinander. Und diese Vielschichtigkeit, dieses
Bangen und Leiden ist oft schwer zu ertragen. Erzählt wird es in fließenden zeitlichen
Übergängen, die in ihrer Komplexität einiges an Konzentration erfordern.
Girl A bleibt bis zuletzt eine Herausforderung und ist zugleich mit seiner
brillanten Psychologie und der erlesenen Übertragung ins Deutsche ein meisterlicher
literarischer Leckerbissen, der lange nachhallt.
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