SARAH HALL: „DIE TÖCHTER DES NORDENS“

 
Kaum zu glauben, dass dieser Roman der vielfach ausgezeichneten englischen Erfolgsautorin Sarah Hall erst jetzt mit 14 Jahren Verspätung endlich auch auf Deutsch erscheint. Um so mehr, als die renommierte „Times“ ihn sogar zu einem der besten Romane des Jahrzehnts erhob.
Und tatsächlich, „Die Töchter des Nordens“ erinnert in vielen an Dystopien von Margaret Atwood oder auch Cormac McCarthy, deren Qualitäten Halls Werk im Übrigen kaum nachsteht. Beim Erscheinen 2007 hat diese Geschichte vermutlich ferner in der Zukunft liegend angemutet als heutzutage, liest man diese Zustandsbeschreibung Englands.
Nach nicht näher ausgeführten Umwelt- und anderen Katastrophen hat sich das Klima ins unerfreulich Tropische gewandelt. Und auch in der Stadt Rith in Nordwestengland herrscht die nicht näher definierte Obrigkeit. Doch auch hier hat die sogenannte Zivile Reorganisation lediglich ein tristes graues Existieren für die quasi versklavten Menschen geschaffen.
Im Mittelpunkt aber steht die Ich-Erzählerin, die sich nur „Schwester“ nennt und ihren Bericht der Ereignisse liest man als teils nicht einmal mehr vollständige Aktenniederschrift. Seit Jahren kennt die zur Berichtszeit 32-Jährige nur noch die dunkelgraue Gegenwart. Auch sie wurde im Übrigen pflichtgemäß mit der Spirale „ausgestattet“, denn die selten erlaubten Schwangerschaften werden per Lotterie verlost.
Ohnehin ist das einst muntere Liebesleben mit Ehemann Andrew ebenso abgestumpft wie dieser selbst. Schwester aber hat sich einiges von dem exzentrischen Widerstandsgeist bewahrt, den sie vom Vater geerbt hat. Und nun wagt sie den Ausbruch aus dieser stumpfsinnigen Tristesse und sie hat vage Vorstellungen, wohin ihre Flucht sie führen soll.
Schon in Teenagertagen hat sie erlebt, wie die legendären Frauen aus dem Lake District von der Carhullan Farm unter Leitung der charismatischen Jackie Nixon an Markttagen ihre Waren anboten und stets für Aufsehen sorgten. Und Schwester macht sich zu Fuß mit nur einem Rucksack auf den strapaziösen Weg durch das heruntergekommene und grotesk verwilderte Cumbria – mit exzellenten Naturbeschreibungen der Autorin, die hier aufgewachsen ist.
„Ich war die letzte Frau, die sich auf die Suche nach Carhullan gemacht hat.“ Das Aufnahmeritual in der Siedlung in den Bergen aber ist von barbarischer Brutalität und auch die Eingliederung unter die 64 hier unter archaischen Lebensbedingungen lebenden Amazonen ist rau und Jackie Nixon eine rabiate und zuweilen unberechenbare Anführerin.
Doch Schwester wird eine der Ihren und so einzigartig wie die Beschreibungen von Natur und Lebensumständen gestalten sich auch die Personenzeichnungen. Durch die Unmittelbarkeit des Erzählens fesselt der Bericht mit spröder Intensität bis zum Ende, wenn die Frauen den Versuch unternehmen, den Norden zu befreien.
Und hier sei ausnahmsweise einmal der Schlusssatz mit der letzten Akteneintragung zitiert, ohne dass dadurch die Spannung gestört würde: „Ich biun die zweite Befehlshaberin der Armee von Carhullan. Ich erkenne diese Regierung nicht als die rechtmäßige an.“ Fazit: ein außergewöhnliches Stück Literatur, großartig, wenngleich düster und weniger für Zartbesaitete zu empfehlen.

# Sarah Hall: Die Töchter des Nordens (aus dem Englischen von Sophia Lindsey); 252 Seiten; Penguin Verlag, München; € 20

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1555 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de