MARY SHELLEY: DER LETZTE
MENSCH
Mary Shelley (1797-1851) wurde durch ihren Gruselroman Frankenstein
weltberühmt und unvergesslich. Doch ihr Bild wurde durch die typischen zeitgenössischen
Darstellungen arg verzerrt. Wie sehr, das erfahren deutschsprachige Leser in einem Roman,
den es erst jetzt erstmals in einer kompletten Übersetzung auch auf Deutsch gibt.
Der letzte Mensch erschien im Original 1826 und während Mary Shelley selbst
ihn als eines ihrer liebsten Werke bezeichnete, fiel er seinerzeit und auf sehr lange Zeit
mit gnadenlosen Verrissen durch. Wer ihn heute liest, versteht, dass nicht wirklich die
Qualitäten des Geschriebenen dafür verantwortlich waren. Für damaliges Denken war
dieser wohl erste dystopische Roman der Weltliteratur einfach eine Zumutung.
Das begann mit der Abschaffung der Monarchie und steigerte sich bis zum Weltuntergang
durch eine unbezwingbare Pandemie. In klugen Anhängen stellen Rebekka Rohleder und
Dietmar Dath dabei Wichtiges klar: wie anders als überliefert das Leben dieser Tochter
eines Intellektuellen-Ehepaares nach dem frühen Tod ihres Ehemannes Percy Bysshe Shelley
im Jahr 1822 verlief. Sie lebte noch fast 30 Jahre weiter, schrieb weitere Romane und
andere literarische Werke, die teils ebenfalls recht erfolgreich waren.
Als sie jedoch 1826 Der letzte Mensch veröffentlichte, war das erkennbar ein
autobiografisch geprägter Schlüsselroman. Außer ihrem Ehemann hatte sie aus ihrem
erlauchten Dichter- und Intellektuellenkreis 1824 auch Lord Byron verloren. Hinzu kam,
dass von ihren Kindern nur ein Sohn überlebte. Und es ist unschwer zu erkennen, wie sehr
Lionel Verney, der titelgebende letzte Mensch, ihr Alter Ego ist.
Da stellt Adrian, Earl of Windsor, Sohn des letzten Königs und beseelt von
republikanischen Ideen, für Percy Shelley. Ihm gegenüber steht Lord Raymond, für den
die Liebe schließlich wichtiger wird als mögliche dynastische oder militärische Erfolge
erkennbar das Pendant zu Lord Byron. Etwas seltsam mutet bei dem sonst so exzellent
aufgebauten Gefüge der Griff in die Zukunft an, denn das Alles spielt am Ende des 21.
Jahrhunderts, Fortentwicklungen in Wissenschaft, Technik und Sonstigem gibt es gleichwohl
nicht zu entdecken.
Was aber ohnehin wenig zählt, wenn das erste der als dreiuteiliger Roman erschienenen
Bücher in komplexe Beziehungsgeflechte im Vereinigten Königreich führt. Es sind
dramatische Konflikte, die durchaus an Shakespeare erinnern, wenngleich die Schilderung
von Ich-Erzähler Verney nicht von großer Aufregung geprägt ist. Und erst am Ende des
zweiten Buches zieht die Pest herauf, um in einem unentrinnbaren Siegeszug als alles
menschliche Leben dahinraffende Pandemie auch vor dem mächtigen Empire nicht
zurückzuschrecken.
Von Panik getriebene Menschenmassen ergießen sich hilflos über die Welt. Und die Autorin
führt vor Augen, dass diese Seuche nicht nur ein medizinisches Problem ist. Das
Zusammenspiel von Krankheit und Kultur, von Pest und Politik lässt gesellschaftliche
Strukturen wie Kartenhäuser zusammenfallen. Da hilft auch die fanatische Erlösungssekte
nicht mehr, als eine schwarze Sonne als Menetekel den Himmel kurz in völlige Finsternis
taucht, dass die Vögel aus dem Himmel fallen.
Lionel Verney ist der letzte Mensch, der die Apokalypse, die so ganz ohne das Getöse
eines allgemeinen Weltuntergangs auskommt, niederschreibt. Einsam und für niemanden. Und
als Hinterlassenschaft einst so geschmäht, dass dieser ebenso düstere wie großartige
Roman gut 150 Jahre im Original und noch länger für eine ausstehende Übersetzung
unbeachtet liegenblieb.
Es ist ein komplexes Werk von sprachlicher Gravität und Dichte und Schönheit und Irina
Philippi gebührt nicht nur Dank für ihre exzellente Übertragung sondern auch für das
Gespür für diese erlesene altmodische Sprache, die sie kongenial zum Original von 1826
und ohne Modernisierungsansätze übersetzt hat. Fazit: dieser alte literarische Schatz
ist eine Herausforderung und ein Fest für anspruchsvolle Leser.
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