ULRICH WEBER: „FRIEDRICH DÜRRENMATT“


Vor genau 100 Jahren wurde Friedrich Dürrenmatt im Schweizer Emmental geboren. Als Dramatiker und Schriftsteller zählt er noch heute zu den meist gespielten und gelesenen deutschsprachigen Autoren. Pünktlich zum runden Geburtstag liegt nun die erste sein gesamtes Leben umfassende Biographie vor.
Ulrich Weber hat sie unter dem schlichten Titel „Friedirch Dürrenmatt. Eine Biographie“ verfasst und der Literaturwissenschaftler, der als Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses fungiert, konnte dazu eine Fülle bisher unzugänglicher Dokumente auswerten. Es existiert eine eingehende Biographie von Peter Rüedi, der Dürrenmatt im Gegensatz zu Weber noch persönlich kannte, doch sie beschränkt sich im wesentlichen auf die erste Hälfte dieses reichen Künstlerlebens.
Gerade die autobiographischen Quellen Dürrenmatts aus dessen späten Jahren, die Weber sehr zum Nutzen des tieferen Verständnisses auswertet, wie auch unter anderem sehr private Korrespondenz wie die mit Ehefrau Lotti vervollständigen das Bild in beeindruckender Weise. Natürlich widmet sich auch dieser Biograph zunächst der Kindheit und Jugend des mäßigen Schülers, der in der schweizerischen Hauptstadt Bern aufwuchs.
Wie er sein Studium schmiss und sich nach einigen Zweifeln fürs Schreiben und nicht fürs Malen entschied, wird ebenso vertieft wie die Hungerleiderjahre als junger Familienvater, für den die aufstrebende Filmschauspielerin Lotti Geissler ihre Karriere aufgab. Während fern der friedlichen Heimat der Weltkrieg und Hitler in den letzten Zügen tobten, gelang dem Jungautor mit „Der Alte“ die erste Erzählung, die veröffentlicht wurde.
Nach kargen Jahren dann 1955 der Durchbruch mit der genialen Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“, dem weitere Großtaten folgen. Neben weiteren noch heute immer wieder gespielten Meisterwerken hat Dürrenmatt dann auch mit Kriminalromanen und Hörspielen so viel Erfolg, dass er eine großzügige Villa beziehen kann.
Es ist vor allem die Zeit in den 50er und den frühen 60er Jahren, in der ein Erfolg den anderen jagt und er auch mit wichtigen Literaturpreisen geehrt wird. Bei all dem war Dürrenmatt einerseits ein begnadeter Erzähler voller Ideen, doch zugleich auch ein wandelnder Widerspruch, wie schon ein markantes Zitat zu seiner Weltsicht offenbart: „Ich bin ein Pfarrerssohn. Ich habe immer an Gott gezweifelt.“
Um so abgründiger, von schwarzem Humor, von Kulturpessimismus durchzogen und von steten schicksalhaften Zufällen durchsetzt, bestechen bis heute Werke voller Absurdität und brillanter Satire mit einzigartiger Wortgewalt. Daneben aber vernachlässigte der Einzelgänger, der sich nie Trends und Gruppierungen anschloss, nicht das Malen und Zeichnen, wo Ulrich Weber ihn als visionären Spätexpressionisten von beachtlichen Talenten präsentiert.
Dürrenmatt konnte im Übrigen außerordentlich unterhaltsam und und seine Großzügigkeit war legendär. Seine Ehe jedoch wirkte nur nach außen stabil und Lotti, die ihm zwar viel Halt gab, selbst aber mit sich haderte, litt derartig an Depressionen, dass sie dem Alkohol verfile und sogar Suizidversuche begangen haben soll. Hinzu kamen Seitensprünge des ebenso umschwärmten wie charmanten Autors, wie er ohnehin auch sonst ein barocker Genussmensch war.
Obwohl Dürrenmatt seit jungen Jahren Diabetiker war und einige schweren Krisen einschließlich eines Herzinfarkts mit 48 Jahren durchmachte, schwelgte er in kulinarischen Genüssen, war ein großer Weintrinker und ständiger Zigarren- und Pfeifenraucher. Dieser unermüdlich schaffende hochintelligente wie auch humorvolle Künstler verlor nach dem Tod Lottis nach schwerer Krankheit Anfang 1983 den Halt im Leben: „Die große Sinnlosigkeit ist über mich hereingebrochen.“
Doch es folgte eine ungeahnte späte Hochphase für Dürrenmatt, als er noch im selben Jahr über seinen Freund Maximilian Schell die deutsche Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr (1927-2011) kennenlernte. Im Nu wurden sie ein Paar und 1984 heiratete der gelassene Egozentriker die impulsive markante Schönheit.
Kerr ist cholerisch und neigt zu unduldsamem Bestimmen und sie greift markant in die weitere Lebensgestaltung ein. Doch Ulrich Weber lässt der von manchen geschmähten zweiten Ehefrau erfreulicherweise Gerechtigkeit widerfahren, denn Friedrich Dürrenmatt war trotz erheblicher Reibereien glücklich mit ihr und erlebte dank dieser neuen Lebendigkeit noch einige Jahre voller künstlerischer Produktivität.
Brillante Abhandlungen hinterlässt der leidenschaftlicher Denker, wenngleich seine veröffentlichten Spätwerke nur noch wenig Beachtung finden. Und dass dieses in seiner Lebensführung oft so unvernünftige Genie kurz vor dem 70. Geburtstag den Herztod stirbt – ein durchaus Dürrenmatt'scher Abgang, denn es hätte eine bereits vorbereitete Weltreise „gedroht“.
Ulrich Weber breitet dieses so überaus fruchtbare Künstlerleben wissenschaftlich akkurat, vor allem aber ebenso ausführlich und detailliert wie höchst unterhaltsam aus. Friedrich Dürrenmatts ewiges Welttheater – dieses großartige Biographie macht ganz viel Lust, es neu für sich zu entdecken.

# Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie; 713 Seiten, div. Abb.; Diogenes Verlag, Zürich; € 28

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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