MICHAELA CARTER: „DIE SURREALISTIN“


Jeder Freund der Malerei kennt Max Ernst (1891-1976) als einen der bedeutendsten Künstler des Surrealismus. Weniger geläufig ist dagegen der Name der Engländerin Leonora Carrington (1917-2011), obwohl sie zu den größten Vertreterinnen dieser Kunstrichtung gehörte.
Dieser Künstlerin hat sich nun die preisgekrönte US-Autorin Michaela Carter gewidmet. Ihr Buch läuft zwar als Roman, doch erzählt wird die sehr reale Geschichte der Phase im Leben dieser außerordentlichen Frau, in der sie mit und auch durch Max Ernst zu ihrer eigenen Bestimmung fand.
Die Autorin eröffnet das Geschehen mit einem eleganten Kniff, indem sie dem Folgenden einen wichtigen Grundton gibt: mittels eines Interviews mit der inzwischen 80-jährigen Künstlerin anlässlich einer großen Retrospektive zu ihrem sechs Jahrzehnte umfassendes Schaffen. Nun im Herbst 1997 wird das reiche Lebenswerk in der New Yorker Brewster Art Gallery ausgestellt und manches davon wird detailliert beschrieben.
Auf die Frage der Reporterin, wie es gewesen sei, mit Max Ernst zusammen zu sein, antwortet die alte Dame spontan: „Es war perfekt.“ Dabei sollten es nur drei Jahre einer sehr besonderen Beziehung werden. Leonora Carrington stammte aus betuchten Kreisen in England und sollte eigentlich „vorteilhaft heiraten“. Stattdessen hat sie intensive künstlerische Ambitionen.
Da ist vor allem ein Gemälde, das sie zutiefst beeindruckt: Max Ernsts „Zwei Kinder werden von einer Nachtigal bedroht“. Und diesem bereits berühmten deutschen Vertreter des Surrealismus begegnet sie bei einem gesellschaftlichen Anlass im Juni 1937 in London. Es knistert beiderseits sofort auf ungeheuer sinnliche Weise zwischen der 20-Jährigen und dem 26 Jahre älteren, verheirateten Künstler.
Mit flirrender Erotik schildert die Autorin ein höchst prickelndes erstes Picknick der Beiden und ihr brennt sich der unvergessliche Eindruck ein: „Er war lebendiger als jeder andere Mensch, den sie kannte.“ Doch der Sturm der Empfindungen ist beiderseitig und für die noch unfertige Malerin setzt er ein Abgleiten und Fliegen ins Surreale frei und sie malt und malt wie im Fieber. Sie riskiert dafür sogar den Bruch mit dem Vater, während sie zugleich das Künstlerleben auf gehobenen Niveau genießt.
Auch als sie als intensiv verliebtes Paar nach Paris ziehen und in der dortigen hochkarätigen Künstlerszene leben, füllen deren Namen die Lexika der Kunstszene mit unzähligen realen Berühmtheiten. Hier wird Leonora zu Ernst „Windsbraut“ und zahlreiche seiner Werke aus dieser Zeit tragen unverkennbar ihr Antlitz. Zwar malt Leonora auch selbst in dieser Phase der äußerst innigen Liebesbeziehung, doch wird sie zuvörderst seine Muse.
Was sie später bissig kritisiert, denn gerade die so liberalen und künstlerisch freisinnigen Surrealisten ließen weibliche Kunst nur wenig gelten sondern nur „als Inspiration für Kunst, diese fürchterliche Vorstellung von einer Muse“. Vorerst aber genoss Leonora das Leben mit Max Ernst, schöpfte selbst aus Traumerlebnissen, malte sogar gemeinsam mit ihm. Und es begann eine Art rauschhafte Zeit außerhalb der Welt, als sie ein abgelegenes Bauernhaus in der Provence als Refugium bezogen.
Doch die Zeitebenen der Kapitel wechseln, springen in die Jahre ab 1940. Zweiter Weltkrieg, die Nazis erobern Frankreich, Max Ernst wird interniert. Wegen „entarteter Kunst“ daheim verfemt, verliert er quasi alles, viele Kunstwerke werden sogar vernichtet. Schlimmer noch – sie werden getrennt, weil er dem Drängen Leonoras auf rechtzeitige Flucht nicht gefolgt ist.
Als er vorübergehend wieder freikommt, ist sie verschwunden. Nach Portugal ist sie geflüchtet, erlebt psychische Zusammenbrüche, von denen sie sich nur schwer wieder erholt. Als sie einander 1941 durch Zufall in Lissabon wiederbegegnen, ist er in Begleitung der berühmten Kunstmäzenin Peggy Guggenheim, die ihnen allen zur Flucht in die USA verhilft.
Die Wege von Leonora Carrington und Max Ernst aber trennen sich unrettbar. Sein Leben bleibt bewegt, vor allem auch privat, während sie später nach Mexiko geht, Familie hat und ihr großes künstlerisches Schaffen fortsetzt. Auch diese Kapitel fesseln sowohl in den zwischenmenschlichen Spannungsgeflechten wie in der feinsinnigen Übersetzung all der Kunstwerke und ihrer Entstehung in Worte.
Natürlich wird in „Die Surrealistin“ vieles romanhaft dargestellt und fiktiv unterfüttert, doch diese Geschichte hat sich so zugetragen. Leonora Carrington wie auch Max Ernst, Peggy Guggenheim und all die weltberühmten Künstler und ihr Miteinander sind authentisch geschildert. Es ist eine Liebesgeschichte der besonderen art, geschrieben mit kraftvoller, souveräner Sprache. Fazit: ein großartiger Roman, der Kunstliebhaber besonders begeistern wird.

# Michaela Carter: Die Surrealistin (aus dem Amerikanischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann); 527 Seiten; Kindler Verlag, Hamburg; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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