BENJAMIN MOSER: „SONTAG. DIE BIOGRAFIE“


Susan Sontag (1933-2004) gehört zu den berühmtesten und einflussreichsten weiblichen Ikonen der jüngeren Vergangenheit. Eine brillante Intellektuelle mit schneidendem Verstand war sie, eine schonungslose Kritikerin mit zerstörerischen Selbstzweifeln und dabei ein glamouröser Mittelpunkt der Gesellschaft – all das und noch viel mehr.
Da bedrufte es eines wahren Könners, um endlich die ultimative Biografie dieser außergewöhnlichen Frau zu verfassen. Sontags Sohn David Rieff und ihr Agent Andrew Wylie vertrauten dabei auf den promovierten Historiker und polyglotten Literaturkritiker Benjamin Moser. Das Ergebnis unter dem schlichten Titel „Sontag. Die Biografie“ geriet nicht nur gewaltig im Umfang sondern auch so großartig, dass das opulente Werk mit dem Pulitzer-Preis 2020 ausgezeichnet wurde.
Es gibt etliche Schriften über Sontags Leben und die spätere Veröffentlichung ihrer Tagebücher machte viele auch intime Details bereits bekannt. Moser aber erhielt Einblick in private Aufzeichnungen, die noch auf Jahre unter Verschluss bleiben werden. Hinzu kamen Interviews mit einstigen Lebensgefährten Sontags wie Annie Leibovitz. Die Starfotografin war ihr so angetan, dass sie sich dafür sogar wirtschaftlich fast ruinierte.
Benjmain Moser schrieb die Biografie gänzlich chronologisch und beginnt mit der nicht sehr glücklichen Kindheit von Susan Rosenblatt, Tochter jüdischer Eltern. Sie war ein intellektuell absolut frühreifes Wunderkind, das in der Schule mit seinen einseitig geistigen Interessen und dem Wissenshunger eine Außenseiterin war. Mit fünf Jahren verlor sie ihren Vater und adoptierte gewissermaßen den Namen des neuen Ehemannes ihrer Mutter. Mit dieser hatte sie lebenslang Probleme, denn die schöne Frau war eine kaltherzige Alkoholikerin und dabei aus Sontags Sicht obendrein hoffnungslos bourgeois.
Schon mit 15 wurde Sontag Studentin an der Universität von Chicago und hatte mit 16 ihre erste lesbische Beziehung. Obwohl sexuell eindeutig auf Frauen ausgerichtetem wurde diese Orientierung und die stete Furcht, damit gesellschaftlich geächtet zu werden, zu einem fast lebenslangen widerstreitenden Thema von immenser Bedeutung für sie. Um so überraschender erscheint es in der Vita, dass sie mit 17 den bekannten Professor Philip Rieff heiratete, mit dem sie zwei Jahre später ihr einziges Kind David bekam.
Durchgehend blieb dagegen ihr innerer Kampf zwischen Geist und Körper und der dauerhaft hinterfragten Verbindung beider. So fühlte die empfindungsmäßig unterkühlte junge Frau sich nach dem ersten Orgasmus ihres Lebens – mit 26 Jahren und natürlich mit einer Frau – als „neugeboren“. Da war sie längst über Geistesabenteuer an den Universitäten von Oxford und Paris am Zielort ihres Lebens angekommen: New York City.
Wo sie alsbald Spitzenplätze im kulturellen Betrieb erklomm. Ihre Essays machten Furore und ihr Themenspektrum reichte von der postabstrakten Malerei über Pronografie und Existentialismus bis hin zu Krebs, Aids und Kriegsfotografie. In sich selbst äußerst komplex und widersprüchlich, stand sie mit ihrem außergewöhnlich scharfen Intellekt auch in der Konversation für die schonungslose Konturenschärfe ihrer Analysen.
Zugleich wurde sie auch zu einer unerbittlichen moralischen Streiterin. Die Passagen über ihre Besuche im belagerten Sarajewo sind grandios geraten und gehen unter die Haut. Ihre empörte Fassungslosigkeit über diesen Rückfall ins Barbarentum und das mitten in Europa gipfelte im Hungersommer 1993 in ihrer Inszenierung von Becketts „Warten auf Godot“ mitten in der ständig beschossenen Stadt – ein unvergessliches Fanal gegen die Gleichgültigkeit insbesondere der europäischen Intelligenzia gegenüber diesem Völkermord.
Doch die Intellektuelle und Künstlerin, die sich nir zu ihrer Homosexualität bekannt, mit ihrem Körper und ihrem Geschlecht haderte und immer wieder unter ihrem maßlosen Anspruch an sich selbst litt, war auch als Autorin eine Große. Nach frühen Ausflügen in die fiktive Schriftstellerei feierte sie in den 90er Jahren mit den Romanen „Der Liebhaber des Vulkans“ und „In Amerika“ große Erfolge.
Benjamin Moser meißelt mit seiner minutiösen Biografie jede bedeutsame Nuance des Lebens und Schaffens dieser einzigartigen Frau, die schon lange vor ihrem Krebstod zu einem Mythos geworden war, in Marmor. Von lodernder Intensität durchdrungen und auch als elegante Stilistin unerbittlich, gibt dieser meisterhafte Lebensbericht der Nachwelt ein tiefgründiges und auch intimes Porträt, das der Bedeutung Susan Sontags vermutlich wahrhaft angemessen ist.

# Benjamin Moser: Sontag. Die Biografie (aus dem Amerikanischen von Hainer Kober); 924 Seiten, div. Abb.; Penguin Verlag, München; € 40

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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