KATE ELIZABETH RUSSELL: „MEINE DUNKLE VANESSA“


„Ich war die Sorte Mädchen, die es eigentlich nicht geben sollte: ein Mädchen, das sich quasi freiwillig einem Pädophilen ausliefert.“ Vanessa Wye ist 32, als sie sich dies in einem selbstkritischen Moment eingesteht, während sie ansonsten noch immer irgendwie in Jacob Stranes Fängen steckt.
Kate Elizabeth Russell betont vor Beginn ihres Romans „Meine dunkle Vanessa“ ausdrücklich, dass es sich trotz einer Parallelen zwischen ihrer Vita und der der Protagonistin um eine rein erfundene Geschichte handele. Man mag es ihr glauben, obwohl es zu denken gibt, dass sie für das Verfassen dieses kontroversen Buches viele Jahre benötigte.
Immerhin geht es um die Beziehung der erst 15-jährigen Vanessa zu ihrem 27 Jahre älteren Englischlehrer. Seit 13 Jahren ist der hünenhafte Mann bereits an der Brwocik School, einem Internat in Maine, tätig. Einzelkind Vanessa („das rothaarige Mädchen. Die eine, die immer allein ist“) hat keine Freundinnen, ist zerstreut und ausgesprochen unordentlich.
Es berührt auf seltsame Weise, was nun beginnt, denn Vanessa erzählt ihre Geschichte selbst, ohne Distanz zu sich selbst und auf nüchterne Weise explizit. Mann nennt es „Grooming“, wenn Erwachsene sich mit einschlägigen Absichten in das Vertrauen Minderjähriger einschleichen, um sie missbrauchen zu können. Ganz subtil baggert Strane das Mädchen an und erobert sie in kleinen raffinierten Schritten, indem er sämtliche offene Flanken des unsicheren Mädchens ausnutzt.
Allein schon seine große Aufmerksamkeit ihr gegenüber wirkt wie ein schleichendes Gift. Mit Worten gaukelt er ihr vor, dass sie nicht nur etwas Besonderes sei mit ihrer emotionalen Intelligenz. Was sie beide verbinde, sei die Offenheit für dunkle Romantik. Er zeigt ihr „Fahles Feuer“, jenen meisterhaften Roman von Vladimir Nabokov, der sich ganz dem Anschmachten eines Mädchens widmet: „Meine dunkle Vanessa“.
Natürlich gibt er ihr Nabokovs Skandalroman „Lolita“ gewissermaßen als Leitfaden für Kommendes zu lesen, diesen Klassiker über den alternden Professor, der das zwölfjährige Nymphchen vernascht, Was sich bei Nabokov jedoch trotz des perfiden Geschehens geradezu blumig dezent umschrieben anfühlt, bekommt in dieser ungeschminkten direkten Schilderung aus Sicht der Betroffenen einen ganz anderen Charakter.
Geradezu fassungslos liest man, wie Strane das Mädchen so gezielt manipuliert, dass es ihm mit einem selbstverfassten erotischen Gedicht quasi eine Einladung kredenzt. Kleine Berührungen hier, ein erster zarter Kuss dort – und immer wieder fragt er um „Erlaubnis“ - bis sie zunehmend ins Beben gerät und ihn zu mehr einlädt. „Du hast das Sagen, Vanessa.Du bestimmst, was wir tun.“
Und dann holt er sie zu sich ins Haus und lässt sie sich einen Pyjama mit Erdbeermuster anziehen, bevor er sie mit einem oralen Orgasmus betört – mit einer Suchtwirkung bis ins Erwachsenenalter. Als sie ihn berühren soll, empfindet sie jedoch Ekel und die trotzdem erfolgende Entjungferung sogar als Zwang. Trotzdem macht sie fortan immer wieder willig und sogar begierig mit bei seinen Sexgelüsten.
Natürlich gibt es irgendwann Gerüchte im Internat und schließlich Stranes Ruf und Verbleib an der Schule auf dem Spiel. Doch selbst dafür hat er sie längst subtil konditioniert: wie sehr sie ihn und sein ganzes Leben in der Hand halte. So geht der Eklat in eine andere Richtung, indem sie sich als Lügnerin bekennt, die eine Liebesaffäre mit ihm erfunden habe.
Zwischendurch springt Vanessas Erzählen wiederholt in die Gegenwart, in der sie erneut Kontakt zu Strane bekommt. Er steht unter Anschuldigungen einer Schülerin, sie missbraucht zu haben, und diese Taylor versucht auch, Vanessa mit ihrer Geschichte gegen ihn aufzuhetzen. Die lehnt jedoch ab, denn das mit ihr und Strane – das war kein Missbrauch, das war eine Liebesaffäre.
Wie sehr er sie in Wirklichkeit damals gerade auch emotional überfordert hat, geht ihr in einem selbstkritischen Moment auf; „Ich...treu wie ein Hündchen, während er nimmt und nimmt und nimmt.“ Dabei musste sie doch als junge Erwachsene erleben, wie er beim Beischlafversuch mit ihr versagte: „Ich war zu alt.“
Die erotische Sehnsuchtaber bleibt unausrottbar, dabei ist Vanessa beruflich auf dem Abstellgleis, trinkt, lebt wie ein Messi und hat sporadisch ziemlich wahllosen Sex mit älteren Männern. Auch als gleich mehrere einschlägige Anschuldigungen gegen den stark gealterten strane sich zum öffentlichen Skandal ausweiten, vermag sie nicht, gegen ihren schamlosen Ausbeuter auszusagen. Selbst als sie sie sich erstmals gegenüber ihrer Therapeutin zu öffnen beginnt, bringt sie es nicht über sich, ihn einen perversen Ausbeuter zu nenen, der sie schamlos benutzt und missbraucht hat. Oder war Strane etwa nur „ein Opfer der feministischen Tyrannei“ in hysterischen Me:too-Zeiten, wie es in den sogenannten sozialen Medien von einigen angedeutet wird?!
„Meine dunkle Vanessa“ ist schonungslos und wird heftige Diskussionen auslösen. Wie nah die Geschichte aber an der Realität ist, zeigen ganz und gar nicht fiktive Fälle wie jener kürzlich aufgedeckte Skandal, den die französische Verlegerin Vanessa Springora aufgedeckt hat. Mit kaum 14 wurde ihr vom bekennenden 50 Jahre alten Pädophilen Gabriel Matzneff so perfide der Hof gemacht, dass er sie auf Jahre zu seiner Geliebten machen konnte. Erst ihr NonFiktion-Roman über diese Ereignisse führte zu staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen den berühmten Schriftsteller.
Fazit: „Meine dunkle Vanessa“ ist ein mutiges, aufwühlendes Buch, das gerade in dieser Form einen unverstellten Blick in die widerwärtige Welt des Grooming und dessen lebenslange Folgen für die Opfer offenbart.

# Kate Elizabeth Russell: Meine dunkle Vanessa (aus dem Amerikanischen von Ulrike Thiesmeyer); 446 Seiten; C. Bertelsmann Verlag, München; € 20

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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