JESSIE BURTON: „DIE GEHEIMNISSE MEINER MUTTER“


„Man kann nicht vermissen, was man nie hatte.“ Rose Simmons aber empfindet genau das Gegenteil und erfindet sich ihre Mutter ein ums andere Mal. Die war noch vor ihrem ersten Geburtstag verschwunden und der liebevolle Vater konnte ihr nicht einmal mit Fotos eine Ahnung vermitteln, wie sie gewesen sein mochte.
So ist Rose mit ihren jetzt 34 Jahren eine in sich unsichere Frau und die zentrale Protagonistin in „Die Geheimnisse meiner Mutter“, dem jüngsten Roman der englischen Erfolgsautorin Jessie Burton. (Der Titel ist übrigens das einzige Triviale am gesamten Buch!) Ich-Erzählerin Rose hat trotz hoher Intelligenz und Studienabschluss keinen beruflichen Ehrgeiz und konstatiert bei sich ein „mangelhaftes Ich“.
Was auch die nach mittlerweile neun Jahren erlahmte Beziehung zu Partner Joe erodieren lässt. Eine Wende bringt ein Besuch beim Vater, der mit seiner französischen Partnerin in der Bretagne lebt und eben eine Krebserkrankung überstanden hat. Wohl auch unter diesem Eindruck gibt er Rose zwei alte Bücher, die beiden einzigen, allerdings seinerzeit sehr erfolgreichen Romane von Constance Holden. Mit ihr sei Elise damals „zusammengewesen“, und wenn es überhaupt Erkenntnisse über ihre Mutter und deren Verbleib gebe, könne sie die nur von der Schriftstellerin erfahren.
Damit kommt es zu einem der vielen dramaturgisch elegant gemachten Zeitsprünge zwischen Rose's Gegenwart von 2017 und den Jahren, als die zarte, in sich sehr ungefestigte Elise um 1980 der 16 Jahre älteren charismatischen Constance begegnete und ihr rettungslos verfiel: „Ein liebestolles Blässhuhn, das hatte Connie aus ihr gemacht.“
Geradezu besessen von den Gedanken, der so schmerzlich vermissten Mutter über diese Frau wenigstens ein bisschen näher kommen zu können, schleicht sich Rose unter falschem Namen bei Connie als Assistentin für Küche und Haus ein. Und für Sekretärsarbeiten, denn die alte Dame hat nach der endlosen Pause unerwartet begonnen, doch noch einen neuen Roman zu schreiben.
Während es schließlich zum Zerwürfnis kommt, als Connies Agentin die falsche Identität aufeckt, offenbart die Zeitebene von 1982/83 das Aufblühen der Liebesgeschichte Elises von Connie und deren Absturz. Die Beiden reisen nach Los Angeles, weil Connies Roman mit Starbesetzung verfilmt werden soll. Das verrückte Leben dort tut der fragilen Elise nicht gut und dann kommt es zur Katastrophe für ihre eifersüchtige Seele: ungewollt erfährt sie, dass die Geliebte sie offenbar mit der wunderschönen Hauptdarstellerin des Films hintergeht.
Wie Rose ihrerseits dann doch wieder einen Zugang zu der altersgeplagten Connie findet und sich parallel gewissermaßen als hilfloser Racheakt die fatale Beziehung zu Matt Simmons, Rose's Vater entwickelt, fesselt vor allem dank der ebenso subtilen wie glaubhaften Charakterzeichnungen bis hin zu dem Moment, als Elise vor allem flüchtet und dabei auch ihre nur wenige Monate alte Tochter hinter sich lässt.
Welche Wunden das Verlassenwerden schlägt, aber auch die Ungewissheit über die eigenen Wurzeln, wie man sich vor der Zukunft scheut, weil man seine Vergangenheit nicht kennt – Jessie Burton hat all das mit souveräner, im Stil beinah altmodischer Prosa zu einem lebensklugen Roman geformt. Fazit: ein großartiges Stück Literatur für anspruchsvolle Leser.

# Jessie Burton: Die Geheimnisse meiner Mutetr (aus dem Englischen von Peter Knecht); 582 Seiten; Insel Verlag, Berlin; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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