NORMAN DAVIES: INS
UNBEKANNTE
Norman Davies, englischer Historiker und Autor zahlreicher erfolgreicher Sachbücher, war
bereits 73 Jahre alt, als er sich nach schweren Krankheiten 2012 auf eine Weltreise begab.
Über viele Monate war er unterwegs auf einer sehr ungewöhnlichen Routenführung.
Jetzt liegt sein sehr persönliches Reisetagebuch unter dem Titel Ins
Unbekannte auch auf Deutsch vor und es sei vorweg gesagt: es ist ein hinreißendes
Füllhorn an Wissen, Erkenntnissen und Anekdoten geworden. Nicht von ungefähr lautet der
Untertitel Eine Weltreise in die Geschichte, denn natürlich ergründet der
emeritierte Professor mehrerer renommierter Universitäten nicht nur die Gegenwart sondern
auch die Vergangenheit der einzelnen Zielorte.
Zugegeben, das reichlich ausgiebige Vorwort lässt nicht auf spannende Lektüre schließen
und auch das Auftaktkapitel verwundert zumindest etwas. Die Weltreise beginnt Davies
nämlich im heimischen Cornwell. Doch der Reisende, der eingangs bekundet, dass es ihm
beim Reisen nicht ums Weggehen sondern um die Goethesche Schule des Sehens
gehe, hat eine frappierende Begründung: Imperialismus beginne daheim.
So beschreibt er die Ursprünge englischer Legenden von Königen, Eindringlingen und
Eroberern. Und plötzlich kommt der Sprung in die Ferne und Baku, die Hauptstadt
Aserbeidschans ist das erste Fernziel. Lebendig, sehr unterhaltsam und immer wieder einem
Anflug britischen Humors beschreibt er die recht ungeordnete Gegenwart hier an der Grenze
zwischen Europa und Asien, geht aber auch kenntnisreich auf die bewegte und sehr
opferreiche Geschichte des Landes ein.
Um dann den krassen Gegensatz in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu erleben mit einer
vollkommen artifiziellen Umgebung in Abu Dhabi und Dubai. Da wird die Wortwahl
sarkastisch angesichts der Absurditäten des hirnlosen Luxus der vom Ölreichtum
übersättigten Einheimischen. Doch es sind interessante Fakten und Details, die er über
all die Bauten und vor allem die Zukunftsprojekte offeriert. Und dezent feststellt:
Ein Selbstbewusstsein von solchem Format muss man sich erst einmal leisten
können.
Welch eine andere Welt dann in Delhi und Indien als der offiziell größten Demokratie der
Welt. Erneut erzählt Davies wieder munter drauf los, faktenreich und mit bunten
Anekdoten. Doch hier ist kein fabulierender Romancier am Werk sondern ein renommierter
Historiker. Das aber ohne die kanalisierenden Zwänge eines vorgegebenen Themas und bei
aller Kenntnis und Erfahrung zugleich mit der unersättlichen Neugier eines wissbegierigen
Kindes.
Immer wieder jedoch hält er auch überraschende Fakten bereit oder geht tief zurück in
die Geschichte des British Empire. Wie in Malaya, dem zweiteiligen Land, zu dem einst auch
der heute so wirtschaftsmächtige Stadtstaat Singapur gehörte. Hier wird Davies
ausführlich und scheut auch nicht vor der japanischen Eroberung von 1942 zurück, die als
größtes Debakel der britischen Militärgeschichte in die Annalen eingegangen
ist.
Um so farbiger werden die Ausflüge nach Tasmanien, Mauritius und in die legendenumrankte
Südsee mit den teils gar nicht appetitlichen Geschichten vom Treiben der westlichen
Seefahrer und Kolonialisten. Mindestens so bunt, in den Ereignissen aber noch deutlich
ruppiger erweisen sich die Kapitel zu den US-amerikanischen Zielorten.
Schon John Steinbeck habe gesagt Texas ist ein Geisteszustand. Und der
Historiker schildert hier nicht nur die spezielle Art der typischen Texaner, für die
immer alles etwas größer sein muss. Geschichte und Hintergründe hellt er bis in die
Zeit auf, als über die leeren Weiten noch die Indianer in ihrer erstaunlichen Vielfalt
der Sprachen und Kulturen unbehelligt von gierigen weißen Siedlern leben konnten.
So gewaltsam, wie die Entstehung des US-Bundesstaates Texas erfolgte, erweist sich jedoch
auch die Frühzeit New Yorks. Manahattan und die Früh- und Vorgeschichte fesseln dabei
ebenso wie jenes von viel Blutvergießen begleitete Aufwachsen der einstigen
niederländischen Kolonie zum heutigen Big Apple.
Abschließend befasst sich der mittlerweile 80-jährige Wissenschaftler mit dem Reisen an
sich und eröffnet dabei unter anderem Detektivisches über das mysteriöse Verschwinden
des malaysischen Fluges MH370. Aber auch eine selbstkritische Abhandlung zur typischen
europäischen Geschichtsschreibung fügt er an. Bei allen humorigen Feinheiten und
sogenannten kleinen Dingen von interessanter Bedeutungslosigkeit sämtliche Fakten
und Analysen beruhen auf wissenschaftlichen Grundlagen.
Und dieses einzigartige Konvolut an Wissen und Wissenswertem, an dem man sich regelrecht
schwindelig lesen kann, beendet Norman Davies in sehr britischer Selbstironie mit einem
Zitat des indischen Politikers Shashi Tharoor: Kein Wunder, dass über dem Empire
die Sonne niemals unterging selbst Gott würde den Engländern nie im Dunkeln
trauen.
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