CHRISTIAN MÄHR: „CARBON“


Der Privatdetektiv Oskar Klein wird Augenzeuge, wie sich sein Klient Peter Hartmann beim Versuch, eine seltsame riesige Pflanze mit der Kettensäge abzuholzen, stattdessen wie unter einem Zwang den Hals durchschneidet. Was Klein erst seinem Schulfreund Floriani beim städtischen Fernsehsender und dann der Polizei meldet.
Damit beginnt Christian Mährs jüngster Roman „Carbon“ und es sei vorweg gesagt: der studierte Chemiker und langjährige Wissenschaftsjournalist wird diesmal noch surrealistischer als in seinen letzten Romanen. Das aber herzerfrischend irre und mit dem gewohnten österreichischen Schmäh und spannend sowieso.
Da überzieht nun eine Geruchsmischung zwischen Zimt und Fäkalien die Gisinger Au und nicht nur in der eingangs erwähnten Siedlung wuchern in rasanter Geschwindigkeit primitive Pflanzen in die Höhe nach Art des Schachtelhalms, der am Ende der Karbonzeit vor 300 Millionen Jahren ausgestorben ist. Sie sondern dazu diesen Duft ab, der nicht nur auf Floriani und die in der Siedlung wohnende Bürgermeistergattin so ganz nebenher eine enthemmende erotische Wirkung entfaltet.
Derweil ist Dr. Werner Scholz, Germanist und Buchverleger, im Zug unterwegs in die Gegend. Bei sich hat er das sehr spezielle Romanmanuskript des Privatgelehrten Anton Pettenkoffer. Während der Fahrt aber rücken ihm ein Herr Wurzelsepp und dann die attraktive Regina Sommerring auf den Leib. Nach der Ankunft in der Stadt muss Scholz erkennen, dass ihm die Beiden im Komplott das Manuskript gestohlen haben.
Der steife Scholz geht mit Detektiv Klein auf die Jagd nach der Diebin und plötzlich ist er wie auch die Gejagte im neu entstandenen Dschungel verschwunden. Die Siedlung wird derweil völlig überwuchert und die Polizei findet lauter saufende Bewohner vor und allmählich machen sich Chaos und Anarchie breit.
In der Stadt kommt es zu einer Demonstration „gegen das Carbon“ und keine Polizei stört, denn die macht mit. Allenthalben und offenbar inzwischen weltweit macht sich „die geschlossene Masse chlorophyllstrotzender Lebewesen“ breit. Eine zweite Demonstration schiebt sich ins Bild und es gibt Tote. Dann aber hält Oskar Klein eine flammende Rede und bildet als Führer ein Exekutivkomitee zur Bekämpfung des Carbon.
Das hat mittlerweile mit seinem unaufhörlichen Riesenwuchs zu einem allumfassenden Lockdown geführt, denn wie das öffentliche Leben sind auch alle Lieferketten zusammengebrochen. Während jedoch Aufruhr, Anarchie und Chaos nicht nur hier in Vorarlberg (Mährs Heimatort und bevorzugter Schauplatz sämtlicher Romane!) herrschen, begegnet man nun Dr. Werner Scholz, Peter Hartmann, Anton Pettenkoffer und Regina Sommerring wieder – mitten im Urwald, umgeben von urzeitlichen Pflanzen und monströsen Insekten.
Pettenkoffer und die Dame outen sich als Zwerge, die nur in der normalen Welt normale Menschengröße haben, doch hier sei man in einer Anomaliezone. Damit wird das Alles auf ebenso intelligente wie originelle Weise philosophisch und die Divergenzen zwischen imaginärem und realem Sein bestimmen die Ereignisse. Wozu Scholz trocken feststellt: „Alles wie im Kino. Ganz einfach.“
Genau das ist es zwar gar nicht, aber das macht ja den absurden Charme dieses verrückten Romans aus. Da fährt man mit der spannend erklärten Natronlok außerhalb des Realraums, in dem derweil Oskar Kleins Aktivisten versuchen, die Carbonpflanzen zu eliminieren und dabei die halbe Stadt abfackeln. Und während allenthalben ganz vieles außer Kontrolle gerät, heißt die grundsätzliche Zielrichtung: „Die Aufhebung des Äons.“
Ja, das ist schwer zu erklären. Man muss sich einfach darauf einlassen, dann erlebt man einen außergewöhnlichen Ausflug in den Magischen Realismus. Und einmal mehr kredenzt Christian Mähr damit eine hinreißende sämige Satiresuppe für anspruchsvolle Leser. Und wenn dann zuweilen eine wunderbare Umstandskrämerei aufkommt, meint man die Stimmen von Helmut Qualtinger oder Josef Hader zu hören...

# Christian Mähr: Carbon; 304 Seiten; Braumüller Verlag, Wien; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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