WILLIAM SUTCLIFFE: „WIR SEHEN ALLES“


Die Zentrale der Drohnen befindet sich in einer Militärbasis im Zentrum von London. Der Grundsatz für ihre ständigen Einsätze lautet: „Wir sehen alles, und wir können jeden töten.“
„Wir sehen alles“ heißt denn auch der Titel des neuen Jugendthrillers von William Sutcliffe. Der englische Erfolgsautor führt darin in ein London der näheren Zukunft nach einem nicht näher beschriebenen Krieg. Der äußere Ring der Stadt liegt weitgehend in Ruinen. Dort leben die Menschen im Elend und zugleich durch eine Pufferzone von der offenbar funktionierenden Innenstadt abgetrennt.
Eine Pufferzone sorgt für die Abschottung und die ständig herumschwirrenden Drohnen überwachen sie. Und der Ich-Erzähler Lex fürchtet insbesondere die grausame Unvorsehbarkeit von Todesschüssen der über ihnen sirrenden Flugkörper. Lex schlägt sich so durch mit kleinen Geschäften und der 16-Jährige kennt nur diesen seit langem andauernden kriegsähnlichen Zustand.
In dem nun der andere Ich-Erzähler Alan zum indirekten Gegenspieler wird. Galt er stets als Loser, der außer Computerspielen nichts konnte, hat er nun offenbar seine Erfüllung gefunden. Als exzellenter Gamer hat er die Bestenauslese zum Drohnenpilot bestanden und jetzt sitzt er erstmals am Bildschirm. Zugewiesenes Zielobjekt ist der terrorverdächtige K622. Er gehört zum „Corps“, der obskuren Widerstandsgruppe, die jenseits der Pufferzone operiert.
Und K622 ist der Vater von Lex. Der begeht eine leichtsinnige Dummheit und wird damit zum Retter seines Vaters, weil der dadurch minimal zu spät zum Führungstreffen des Corps kommt. Alan nämlich bekommt gleich an diesem ersten Einsatztag den Abschussbefehl. Der er cool befolgt: „Wir sind bloß technische Dienstleister“. Sein Volltreffer löst Euphorie im Flugraum aus, obwohl nur der Überlebende K622 weiß, dass es die gesamte Führungsriege ausgelöscht hat.
Während Lex nun vom Vater für wichtige geheime Aufträge des Corps eingesetzt wird, wächst Alan in seinen neuen Job, verdient Geld und Anerkennung. Außer bei seiner harten, kalten Mutter. Mit der Alleinerzieherin hatte er schon immer ein schwieriges Verhältnis, jetzt hält sie ihm wegen seiner speziellen Aufgabenerfüllung vor, sein Gehalt sei „Blutgeld“. Für ihn aber ist das einfach das Befolgen eines Befehls: „Das Denken passiert woanders.“
Lex schlägt sich wacker und er verliebt sich in Zoe. Diese Liebesgeschichte in Zeiten des überall lauernden Todes und der Trümmerlandschaften baut der Autor mit herber Romantik ohne jeden Kitsch ein. Alan dagegen hat mit seinen Avancen bei Kollegin Crystal auch wegen eigenen Ungeschicks weniger Glück und muss sich zum Austoben auf sein neues Motorrad beschränken.
Zugleich spitzt sich die Lage zu und Lex' Vater befürchtet einen größeren Angriff. Alan wiederum gewinnt immer mehr Routine mit seinem Zielobjekt K622. Und gewöhnt sich nach seinem ersten gezielten Personenangriff an die absolut tödliche Ernsthaftigkeit seines Jobs. Zudem weiß er: „Kollateralschäden werden stets abgewogen, aber bei zeitrelevanten Operationen hat das nicht oberste Priorität.“
Wie an dem Tag, als der Abschussbefehl für K622 erfolgt. Wie alle Kollegen im Flugraum hat er sich bis dahin bemüht, persönliche Distanz zum Zielobjekt zu wahren, denn sonst ist man als Pilot verloren. Genau das aber passiert ihm bei Alarmstufe Rot – was dem Zielobjekt allerdings nichts nützt, da nie ein Pilot allein im Einsatz ist.
Dieser packende Roman kann kein Happyend haben und er endet zugleich auf ungewöhnliche Weise. „Wir sehen alles“ ist ein hartes Buch von erschreckender Realitätsnähe, denkt man an längst gängige Drohnenpraktiken bis hin zur Eliminierung von Zielpersonen. Mit allen vorstellbaren Begleiterscheinungen, denkt man zum Beispiel an einen hyperrealistischen Spielfilm wie „Eye in the Sky“ (Gavin Hood, 2015).
Da muss man nicht wissen, was zu den Zuständen in diesem dystopischen London geführt hat und auch nicht, was die Untergrundorganisation im Schilde führt. Dieser Thriller hallt lange nach und ist nicht nur für junge Leser ab etwa 15 Jahren eine anspruchsvolle und absolut fesselnde Lektüre.

# William Sutcliffe: Wir sehen alles (aus dem Englischen con Uwe-Michael Gutzschhahn); 285 Seiten; Rowohlt Rotfuchs, Hamburg; € 15

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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