KIRSTEN JÜNGLING: „BEETHOVEN – DER MENSCH HINTER DEM MYTHOS“


Zu Ludwig van Beethoven gibt es umfangreiche Literatur einschließlich großer Biografien. Dennoch ist zum 250. Geburtstag in diesem Jahr eine Biografie wie die von Kirsten Jüngling eine willkommene Ergänzung.
„Beethoven. Der Mensch hinter dem Mythos“ hat die renommierte Biografin ihr Werk überschrieben und tatsächlich widmet sie sich ganz der Vita des Genies, ohne nennenswert auf einzelne seiner Werke einzugehen. Entsprechend beginnt sie mit dem familiären Hintergrund und den frühen Jahren, in denen der Vater bereits den Siebenjährigen mit grober Härte zum Wunderkind nach dem Vorbild Mozarts drsssieren will.
Johann van Beethoven ist selbst Musiker der Bonner Hofkapelle, aber auch Weinhändler mit starkem Hang zum Alkohol. In der wenig empathischen Mutter hat der Junge wenig Unterstützung. Gleichwohl entwickelt sich seine große Begabung so intensiv, dass er mit sieben das erste öffentliche Vorspiel gibt und mit zwölf bereits als Hoforganist fungiert.
Und dann zeigt die Autorin anhend der weiteren, von vielen Umzügen und einer erheblichen Rastlosigkeit geprägten Jahre ein frühes Genie als Pianist und Komponist, das als Mensch widersprüchlich, cholerisch und launenhaft mit einem Hang zu unbeherrschten Zornesausbrüchen war. Dass er zeitlebens in der Furcht vor Verarmung lebte – und am Ende ein kleines Vermögen hinterließ – war vermutlich den Verhältnissen in Kinder- und Jugendjahren geschuldet.
Seine in späteren Jahren zuweilen unerträgliche Misanthropie aber ist klar auf die Ertaubung zurückzuführen, nachdem er bereits mit 25 Jahren erste Anzeichen von Schwerhörigkeit bemerkte. Man stelle sich einen Komponisten vor, der viele seiner größten Werke niemals selbst zu hören bekommt!
Hier zitiert Kirsten Jüngling das sogenannte „Heiligenstädter Testament“, jenen verzweifelten aber offenbar nie abgeschickten Brief Beethovens, in dem er 1802 seine Verzweiflung ausdrückt bis hin zu Suizidgedanken. Ohnehin zitiert die Biografin sehr viel und muss doch häufig auf verschiedene mögliche Interpretationen von Schriftstücken, Sachverhalten und ungesicherten Quellenstatus verweisen.
Das komplexe Liebesleben Beethovens, der Nähe ebenso dringlich suchte wie auch scheute und immer wieder zwischenmenschliche Beziehungen durch eigenes Verschulden zerstörte, zieht sich prägend durch sein Privatleben. Das er nie wirklich in den Griff bekam, während er als Musiker größte Anerkennung und Erfolge erfuhr. So scheiterte auch die von Beethoven herbeigesehnte Annäherung an den Dichterfürsten Goethe, der nach der einzigen Zusammenkunft konstatierte: „Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt, allein er ist leider ine ganz ungebändigte Persönlichkeit.“
Dass der Künstler zumindest in Männergesellschaft auf freundlich und humorvoll sein konnte, bleibt weitgehend Behauptung. Erwiesen ist dagegen sowohl die zunehmende Verwahrlosung des linkshändigen Genies wie auch seine hinfällige Gesundheit. Die er allerdings auch durch ungezügelten Alkoholgenuss noch gravierend untergrub.
So ausgiebig und detailliert, wie sich Kirsten Jüngling schließlich einem geradezu tragischen Kampf Beethovens widmet, hat man von der sogenannten Neffentragödie selten gelesen. Beethovens Ringen um das alleinige Sorgerecht für Karl, den Sohn seines Bruders – und gegen dessen Mutter – war von einer Art verzweifelter Liebe unterlegt, während der kontrollwütige Komponist ihn beinha noch schlimmer traktierte als sein Vater einst ihn. Gleichwohl wurde der junge Mann dann dennoch sein Alleinerbe.
Auch das elendige Siechtum, mit dem der allseits hoch verehrte Künstler schließlich an der Wassersucht verstarb, wird höchst anschaulich geschildert. Fazit: derartig explizit und ausführlich hat man die Biografie Ludwig van Beethovens wohl noch nie gelesen, wenngleich sie sich weitestgehend auf die Person und das Privatleben beschränkt.
Das ermöglicht einerseits eine dezidierte Charakterzeichnung, andererseits liegt hier auch eine der Schwächen dieser Biografie, denn die Autorin trennt den Menschen Beethoven zu stark vom Musiker Beethoven. Dabei sind die Wechselwirkungen zwischen Persönlichkeit, körperlichen Problemen und musikalischem Genie und Schaffen grundsätzlich untrennbar.
Kirsten Jünglings Biografie bleibt insofern – auch das den hervorragenden Zeit- und Lokalkolorits bis hin zu interessanten Einblicken in manche Adelshäuser – ein verdienstvolles Werk. Als Biografie zur Gesamtpersönlichkeit Ludwig van Beethovens aber kann sie eine Art Beiakte zu den vorliegenden großen Lebenschroniken verschiedener verschiedener Beethoven-Experten sein.

# Kirsten Jüngling: Beethoven. Der Mensch hinter dem Mythos; 304 Seiten, div. Abb.; Propyläen Verlag, Berlin; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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