WALBURGA HÜLK: „DER RAUSCH DER JAHRE“


Es war nicht der übermächtige Napoleon Bonaparte, der Paris zur Welthauptstadt machte. Dieses faszinierende Kunststück brachte erst sein Neffe Louis Napoleon (1808 – 1873) in einer unvergleichlichen Epoche von 18 Jahren voller Aufbruchstimmung fertig.
Walburga Hülk, Professorin für romanische Literatur an der Universität Siegen, hat sich diesem vielfältigen Komplex mit einem großen Sachbuch gewidmet, das sie mit „Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand“ überschrieb. Am 2. Dezember 1851 putschte Präsident Louis Napoleon mit einem raffiniert eingefädelten Handstreich die 2. Republik hinweg und genau ein Jahr danach – das Datum hatte schon bei seinem Onkel eine besondere Bedeutung gehabt – proklamierte er sich Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen.
Paris war zu dieser Zeit noch ein mittelalterlich verwinkeltes, wenig ansehnliches Drecknest. Der autokratisch regierende Napoleon III. aber war „ein rastloser Projektemacher mit Instinkt für Zukunft und Globalisierung“, wie ihn Hülk beschriebt. Und er schob die Moderne auf breiter Ebene an mit Fortschritt um jeden Preis als Maxime. Für die Metropole bedeutete das unglaubliche Umbrüche, denn sein Präfekt brach die halbe Stadt ab und baute nicht nur all die Prachtboulevards, die noch heute bewundert werden.
Paris wird auf viele Jahre zur Großbaustelle, was neben viel neuem Glanz aber auch für Arbeiterelend und neben Prunk und Reichtum auch für Verarmung breiter Bevölkerungskreise sorgte, von drastisch steigenden Mietpreisen ganz abgesehen. An dem Neofeudalismus des prunkliebenden Kaisers samt genüsslich gepflegtem „monarchistischem Retro-Chic“ entzündete sich entsprechend viel Kritik.
Die Autorin lässt diese geschickt durch große Geister jener Epoche formulieren. Von denen Victor Hugo sogar ins Exil flüchten musste, denn Zensur und sonstige Unterdrückung gehörten zum System des Regimes. Mit Fakten wie auch süffisanten Anekdoten werden die gesellschaftlichen Verwerfungen äußerst unterhaltsam unterlegt. Doch was man Napoleon III. auch vorwerfen mag, er trieb den Mitte des 19. Jahrhunderts ohnehin geradezu vergötterten Fortschritt an wie kein Anderer seiner Zeit und das nicht nur in der Hauptstadt.
Unter seiner Ägide machte die Mobilität mit einem riesigen Eisenbahnnetz einen Sprung nach vorn, er setzte erfolgreich auf Kolonialismus, gab dem Welthandel einen entscheidenden Anstoß mit dem Bau des Suezkanals. Alles ging in rasender Geschwindigkeit voran, doch das galt auch für eine berauschende Blüte von Kunst und Literatur, die wegweisend in die Zukunft führte.
Als der machtbewusste Herrscher sich 1870 außenpolitisch düpieren und in den fatalen deutsch-französischen Krieg ziehen ließ und dann abdanken musste, hatte er die Moderne längst geschaffen: Paris war die glanzvolle Welthauptstadt geworden und viel von dieser Größe sollte sie bis in die Gegenwart bewahren. Für den rücksichtslos beschworenen Fortschritt aber beklagte der große Baudelaire aus zeitgenössischer Sicht: „die Abnahme der Seele und die Zunahme der Materie.“
Walburga Hülk hat den mitreißenden Streifzug durch diese faszinierende Epoche geistreich und mit viel Witz zu einem großartigen Sachbuch gemacht. Und selbst, wenn man sich zuweilen vor lauter Fakten und Details geradezu schwindelig liest, bleibt es doch stets ein großes, anspruchsvolles Lesevergnügen.

# Walburga Hülk: Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand; 415 Seiten, div. SW-Abb.; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; € 26

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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