YANGSZE CHOO: „NACHTTIGER“


British-Malaya, das heutige Malaysia, ist als Romanschauplatz in unseren Breiten quasi unbekannt. Um so geheimnisvoller stellt sich die einstige britische Kolonie 1931 dar, wie sie Yangsze Choo in ihrem Roman „Nachttiger“ ausbreitet.
Selbst Malaysierin chinesischer Abstammung, kennt sie sich bestens aus in dieser Welt voller Aberglauben und Mythen, wo sich zwischen Dschungel, Kolonialvillen und Eingeborenenvierteln manch schwer Verständliches tut. Die Geschichte beginnt damit, dass der auf den Tod kranke Dr. MacFarlane seinem chinesischen Houseboy Ren einen ungewöhnlichen Auftrag erteilt.
Der elfjährige Waisenjunge soll den einst amputierten Finger seines Herrn wiederbeschaffen. Der Arzt hat die teils skurrilen irrationalen Vorstellungen der Einheimischen so verinnerlicht, dass auch er glaubt, seine Seele könne keine Ruhe nach seinem Ableben finden, wenn sein Körper unvollständig bestattet wird. Nur ganze 49 Tage verbleiben nach dem Tod, um das zu verhindern.
Dann wechselt das Geschehen zur Ich-Erzählerin Ji Lin, einem ehrgeizigen Schneiderlehrling. Heimlich aber arbeitet sie nachts als Tanzmädchen, um die schulden der Mutter abzuarbeiten, die diese beim Mah-Jongg-Spiel angehäuft hat. Und während sich Ren auf die fieberhafte Suche nach dem Finger seines Herrn macht, fällt Ji Lin durch einen dummen Zufall das grausige Souvenir eines unangenehmen Tanzgastes in die Hände: ein Glasröhrchen, das einen abgetrennten, verschrumpelten Finger enthält.
Dr. MacFarlane stirbt und vermacht Ren seinem jungen Kollegen William Acton. Die Tage verrinnen und dann kreuzen sich die Wege von Ren und Ji Lin wie auch der Besitz des abgetrennten Fingers wechselt. Zugleich aber herrscht große Unruhe in der Stadt, denn es kommt zu mysteriösen Todesfällen mit zerfetzten Leichen. Kann es sein, dass einer der gefürchteten Wertiger sein Unwesen treibt? Die Einheimischen glauben fest an diese Gestaltwandler, die sich aus Tigern in mörderische Menschen verwandeln können.
Doch es gibt noch weitere Handlungsstränge voller Aberglauben. Konfuzianismus, chinesischer Zahlenmystik und seltsamen Ansichten. Sinnliche Momente spielen ebenfalls eine gewichtige Rolle wie das heftige Knistern zwischen Ji Lin und Shin, dem Sohn des neuen Mannes ihrer Mutter, wie auch der Hang des durch eine Verlobung gebundenen Dr. Acton zu den Frauen der Stadt. Seltsame Traumwelten tun sich auf, aber auch solch rustikale Abgründe wie Grabräubereien.
Das Alles entwickelt eine wahrhaft exotische Atmosphäre, sinnlich durchsetzt und von subtil fesselnder Spannung. Die bravourös aufbereitete Mischung aus einzigartigen Charakteren, den fremdartigen Traditionen und Gebräuchen und allerlei magische Praktiken machen „Nachttiger“ zu einem Lesevergnügen besonders für jene, die das Außergewöhnliche schätzen.

# Yangsze Choo: Nachttiger (aus dem Englischen von Heike Reissig und Stefanie Schäfer); 575 Seiten; Wunderraum Verlag, München; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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