DANIEL SIEMENS: „STURMABTEILUNG“


Als sich am 4. November 1921 im Münchner Hofbräu-Haus 46 SA-Männer nach der Rede des Führers eine wüste Saalschlacht mit sogenannten „Soldaten des Judenmarxismus“ - wie Hitler sie nannte – lieferten, war das gewissermaßen die Geburtsstunde dessen, was als SA = Sturmabteilung der Nationalsozialisten Jahre später wichtiger Wegbereiter des Dritten Reiches werden sollte.
Doch obwohl sich die SA-Horden nach dem frühen Verbot im Anschluss an den Hitler-Putsch ab 1925 neu gründeten und zur Massenorganisation mit zigtausenden „Braunhemden“ aufschwang, jedwede politische Gegner malträtierten, in erste provisorische KZs sperrte oder schlichtweg umbrachte – nach dem Ende der Schreckenszeit kamen sie seltsam ungeschoren davon. Eine nachrangige Nazi-Organisation, deren ungehobelten Rabaukenhorden seit dem Röhm-Putsch im Sommer 1934 keine große politische Bedeutung mehr hatte?
Mit solchen Mythen räumt der deutsche Historiker Daniel Siemens in der ersten umfassenden Biografie zu der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP auf. Unter dem Titel „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“ verfolgt der Professor für Europäische Geschichte an der Newcastle University und Fellow der Royal Historical Society auf dem neuesten Forschungsstand die tatsächlichen Entwicklungen dieser Organisation und ihre wahre Bedeutung, die in der Erkenntnis gipfelt: ohne SA keine Machtergreifung und kein Drittes Reich.
Zu Beginn ihrer zweiten Phase wirkte die SA noch als Propagandainstrument, betätigte sich als noch unbewaffnete Schlägertruppe aber bereits im brutalen Straßenkampf gegen Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden. Seit 1926 traten sie hordenweise in ihren braunen Uniformen auf, die sie übrigens selbst bezahlen mussten. Doch schon hier greifen die festgefügten Ansichten über die ungebildeten Horden – gern verglichen mit heutigen Hooligans – viel zu kurz, denn schon früh bestand die SA neben Arbeitern und Arbeitslosen aus zahlreichen Studenten und Angehörigen der Mittelschicht. Abgesehen davon, dass die Führungsriege durchweg mit Offizieren der ehemaligen Reichswehr besetzt war.
Noch vor der Machtergreifung am 30. Januar 1933 war die alles überschwemmende SA auf über 88.000 Mitglieder angewachsen, die mit Druck und hemmungsloser Gewaltbereitschaft im ganzen Land für eine Haltung der widerstandslosen Unterordnung und Gefolgschaft sorgte. So sah sich diese Massenorganisation nicht zu Unrecht als die wahre Wegbereiterin für Aufstieg und Etablierung des Nationalsozialismus: „Die SA verstand sich 1933 als eine Organisation, die sich einen rechtsfreien Raum geschaffen hatte und dem deutschen Strafgesetzbuch nicht mehr unterlag.“
Doch nun auf dem Höhepunkt ihres Einflusses und ihrer Macht, wurde die SA für Hitler zum Problem als Staat im Staate, als er alsbald die sogenannte „nationale Revolution“ für vollendet erklärte. In einem unglaublichen Akt von Staatsterror entledigte er sich im Sommer 1934 wegen des angeblich drohenden Röhm-Putsches der Spitze der SA, indem er handstreichartig die gesamte Führungsriege von rund 100 Mann liquidieren ließ.
Spätestens von hier ab fehlte bislang eine eingehende Geschichtsforschung und die massiv gebrochene Bedeutung der SA wurde als Eintritt in eine nachrangige Rolle gedeutet. Eine sehr weitgehend falsche Einstufung, wie Historiker Siemens entschieden darlegt. Vielmehr war das Reich auf breiter Basis insbesondere in Verwaltung und Rechtsprechung von den Braunhemden durchdrungen. Und sie wirkten als unverzichtbarer Bestandteil der Durchdringung des Volkskörpers im Geiste einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.
Mit inzwischen rund zwei Millionen Mitgliedern war die SA allgegenwärtig und hinsichtlich der Judenverfolgung tat sie sich nicht nur 1938 bei der berüchtigten „Reichskristallnacht“ besonders hervor. Bei der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ spielte sie ebenso eine in der Geschichtsforschung bisher stark unterschätzte Rolle wie auch bei der Einvernahme und Unterjochung besetzter Ostgebiete.
Abschließend widmet sich Daniel Siemens in seiner sehr detaillierten Untersuchung auch dem Nachkriegsbild der SA. Die Nazi-Verbrechen wurden in erster Linie der SS und später außerdem der Wehrmacht angelastet, während die Braunhemden bis zur „unbedeutenden Nazi-Anhängergruppe“ mit Straßenkämpfer-Aura und Uniform-Getue so weit verniedlicht wurden, dass sie in den Nürnberger Prozessen 1946 nicht einmal als „verbrecherische Organisation“ eingestuft wurden.
Eine absolut sachfremde Reinwaschung, die prompt so manche angesehene Karriere in öffentlichen Ämtern und Justiz trotz dunkler NS-Vergangenhei8t möglich machte. Fazit: ein exzellentes Sachbuch zu einem viel zu lange vernachlässigten Phänomen der Geschichte des Dritten Reichs, das deren Bild erst vollständig macht und damit nicht weniger als ein Standardwerk ist.

# Daniel Siemens: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA (aus dem Englischen von Karl Heinz Siber); 592 Seiten, div. SW-Abb.; Siedler Verlag, München; € 36

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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