BART van ES: DAS MÄDCHEN MIT
DEM POESIEALBUM
Als ich acht Jahre alt war, hat man mich versteckt, und ich habe mich von meinem
Vater und meiner Mutter verabschiedet und dachte, es sei nur für ein paar Monate. Aber es
ging weiter und weiter und nahm kein Ende, und ich habe sie nie wiedergesehen.
Mit diesem erschütternden Satz erinnert sich Hesseline Lien de Jong an ihre
Kindheit in den 40er Jahren in den besetzten Niederlanden. Es ist der Sommer 1942, als die
Deportationen der Juden auch hier einsetzten und Liens Mutter das Mädchen mit einem
beklommenen Brief an unbekannte Pflegeeltern übergeben ließ. Diese Familie van Es
gehörte zu den vielen, die regelrechte Netzwerke bildeten, um jüdische Mitbürger zu
verstecken.
Liens Schicksal wäre beinahe vergessen geblieben, doch sie hatte nicht nur das Glück zu
überleben, sie wurde nach dem Krieg sogar von ihrer ersten Pflegefamilie adoptiert. Und
einer ihrer Stiefbrüder war der Vater des in Oxford lebenden Literaturprofessors Bart van
Es. Als der in Familienunterlagen auf Lien stieß, verwunderte ihn ihre plötzliche
Trennung von der Familie, offenbar ausgelöst durch einen Brief seiner Großmutter.
Ende 2014 begann van Es mit Recherchen zu Liens Leben und er fand sie in Amsterdam lebend
und bereit, den großen Rückblick zu wagen. Daraus entstand eine so großartige Reportage
unter dem Titel Das Mädchen mit dem Poesiealbum, dass der Autor dafür mit
dem hochdotierten Costa-Preis ausgezeichnet wurde. Das Poesiealbum war dabei ein wichtiges
Erinnerungsstück, denn es enthielt biografische Einträge und alte Fotos hatte die
rüstige alte Dame, geboren am 7. September 1933, ebenfalls vorzuweisen.
Die Schilderungen wechseln zwischen denen aus den Kriegszeiten aus der Perspektive Liens
und denen der vielen und immer vertrauteren Gesprächen zwischen Neffe und Tante. Anfangs
ging es Lien relativ gut in der Pflegefamilie, doch der Unterschied zwischen den vielen,
die unter höchster Gefahr fürs eigene Wohlergehen insgesamt 16.000 Juden retteten, und
denen, die mit den Nazis kollaborierten, war krass. Siebeneinhalb Gulden gab es als
Meldegeld pro verratenen Juden.
Besonders die niederländischen Polizisten waren zudem so obrigkeitshörig, dass sie zu
willfährigen Schergen der SS wurden. Als dann ein besonders berüchtigter Judenfänger in
das Haus der van Es eindringt, kann Lien nur knapp fliehen, und es setzt eine elende
Flucht von einem Versteck zum nächsten ein. Bis sie in der van Laar-Familie Aufnahme in
unerfreulichen Verhältnissen findet. Das apathisch gewordene Mädchen wird schließlich
auch noch von Onkel Evert, Bruder des Pflegevaters, als gerade Elfjährige
wiederholt vergewaltigt.
Bei Kriegsende kann sie tatsächlich in die freundliche van Es-Familie zurückkehren und
sie wird von ihr sogar adoptiert. Die Normalisierung ihres Lebens geht bis hin zu Heirat,
Kindern und bürgerlichem Leben. Dennoch holt auch sie jene typische Depression vieler
Holocaust-Überlebender ein und bei Lien führt das obskure Schuldgefühl bis zum
Suizidversuch, dem trotz Therapien auch die Scheidung folgt. Was dann auch der Anlass zu
dem Brief ist, der das Band zwischen ihr und der Familie auf so scheinbar unverständliche
Weise zerschneidet.
Der Prozess, in dem Autor und Zielperson diesen Lebensweg offenlegen, ist zutiefst
bewegend dargelegt. Für Bart van Es war das Erinnerungswerk aber auch Anlass, die
allgemeinen Umstände jener Jahre zu erforschen. Wie die vielen Juden anfangs in den noch
ländlich-traditionellen Niederlanden lebten und wie sie in dem vom Krieg schwer
verwüsteten Land in der Nachkriegszeit als Überlebende ganz hinten anstehen mussten,
beschreibt er ebenso nüchtern wie schonungslos.
Fazit: fesselnd wie ein Roman eine wahre Geschichte aus dem Leben, die lange nachhallt.
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