DENNIS LEHANE: „DER ABGRUND IN DIR“


„An einem Dienstag im Mai, im Alter von 36, erschoss Rachel ihren Mann.“ Alles klar also, ein Krimi? Erfolgsautor Dennis Lehane ist seit Jahren einer der Größten in diesem Metier und doch könnten einem erst einmal Zweifel kommen, denn rund 200 Seiten lang wird man derartig von ganz anderen Ereignissen gefesselt, dass man den starken Eingangssatz beinahe vergisst.
„Der Abgrund in dir“ heißt der neue Roman und Lehane schreibt hier nicht nur keinen weiteren Gangsterkrimi, er erzählt erstmals sogar aus der Perspektive einer Frau. Diese Rachel Child wuchs vaterlos bei ihrer Mutter Elisabeth auf, einer bekannten Psychologin, die nei verheiratet war und dennoch mit Lebenshilfebüchern für Paare Erfolg hatte.
Um den Erzeuger, der ging, als Rachel erst drei war, macht die dominante und zuweilen schikanöse Mutter ein eisern gehütetes Geheimnis. Die isolierte Tochter wird die ebenso aggressive wie anmaßende und dabei extrem besitzergreifende Frau später für sich „du böses, dämonisches Biest“ nennen. Da ist es für sie im Alter von 21 Jahren regelrecht eine Befreiung, als die Mutter unerwartet durch einen Verkehrsunfall umkommt.
Nun wird Rachel zur steil aufstrebenden Journalistin und setzt ihre investigativen Talente auch für die Suche nach ihrem Vater ein. Als sie ihn tatsächlich aufspürt, kommt der Schock – ihre Mutter hatte diesen Jeremy betrogen wie später auch Rachel, die eine andere Blutgruppe hat. Von ihm aber erfährt sie, dass die Psychologiedozentin eine schwer gestörte Persönlichkeit hatte: „Für sie waren Geheimnisse besser als Sex.“
Derweil wechselt Rachel zum Fernsehen, macht eine vielversprechende Karriere und heiratet ihren Kollegen Sebastian. Dann jedoch kommt ein Einsatz, der alles verändert: sie wird 2010 als Berichterstatterin nach Haiti entsandt, wo ein verheerendes Erdbeben Chaos und Anarchie auslöste. Ein traumatisches Erlebnis wirft sie so total aus der Bahn, dass Job und Ehe dabei draufgehen und sie sich auf zwei Jahre mit schweren Angstpsychosen von der Welt abkapselt.
In dieser Phase trifft sie erneut auf Brian Delacroix, einen attraktiven Kanadier aus einer Holzdynastie, der ihr als Detektivaspirant schon einmal bei der Vatersuche behilflich war. Nun werden sie ein Paar und heiraten schließlich auch. Erstmals empfindet Rachel Liebe und Geborgenheit, allerdings kommen die Panikattacken immer wieder, sobald der inzwischen erfolgreiche Geschäftsmann verreisen muss.
Immerhin hat Rachel mittlerweile die Identität ihres echten, vor Jahren verstorbenen Vaters herausgefunden, enttäuschend aber irgendwie auch beruhigend. Im Gegensatz zu einem anderen Erlebnis, denn bei einem der wenigen Wagnisse, trotz der schweren Agoraphobie das Haus zu verlassen, sieht sie ihren liebevollen Ehemann, wo er nicht sein sollte. Brians Erklärung aber ist so einfach: er hat einen Doppelgänger, den er vor Jahren sogar flüchtig kennengelernt hat.
Doch vielleicht ist es das Erbe der Mutter, denn nun steigt Misstrauen auf, frisst sich langsam durch und lodert auf. Ihre investigativen Talente bringen immer mehr Erkenntnisse an den Tag und nun wandelt sich die tiefgründige, fesselnde Liebesgeschichte in mitreißender Geschwindigkeit zu einem atemberaubenden Psychothriller voller schwindelerregender Wendungen. Dramatisch und packend wird das Spiel mit den Wahrheiten, den Rollen und dem Verrat und es lässt den Leser bis zum Schluss nicht mehr los.
Wie immer ist das Alles mit schnörkellos zielführender Sprache geschrieben und die Charaktere sind brillant gezeichnet. Fazit: dieser Roman ist ein Meisterwerk der Spannungsliteratur und man wird in diesem Jahr nur schwerlich ein noch grandioseres finden.

# Dennis Lehane: Der Abgrund in dir (aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg); 526 eiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 25


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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