JOHN BOYNE: CYRIL AVERY
John Boyne ist einer der großartigsten zeitgenössischen Schriftsteller. Mit seinem neuen
Roman Cyril Avery hat sich der irische Erfolgsautor sogar noch übertroffen.
Und dennoch könnte sich das Werk damit schwertun, ein Bestseller zu werden, denn sein
Ich-Erzähler Cyril breitet hier die gesamte Vita eines Homosexuellen aus.
Der Roman packt den Leser sogleich, wenn er in einen dörflichen Gottesdienst geführt und
brachial mit einer ganz und gar nicht untypischen Szene im geradezu theokratisch
katholischen Irland von 1945 konfrontiert wird. Father Monroe, von dem später bekannt
wird, dass er heimlich zwei Frauen geschwängert hat, jagt die 16-jährige Catherine mit
Tritten als Hure aus der Kirche, weil sie als Unverheiratete schwanger ist.
Die Verbannte geht nach Dublin, wo sie ihren Sohn zur Welt bringt, jedoch auch gezwungen
ist, ihn zur Adoption freizugeben. So kommt Cyril zu Charles und Maude Avery, wohlhabend
aber lieblos. Sie eine besessene, emotional kalte Schriftstellerin, er ein Banker und
Frauenheld, der Cyril stets einschärft, dass er nie ein echter Avery sein
werde. Früh spürt Cyril dann, dass etwas anders mit ihm ist, im Gegensatz zu seinem
besten Freund Julian.
Mädchen interessieren Cyril nicht, stattdessen fasziniert ihn sein Freund, mit dem er im
Internat sogar das Zimmer teilt. Um so quälender kommt die Erkenntnis, dass er schwul
ist. Und das in Irland, in dem alles Leben sich in teils schriller Scheinheiligkeit am
strikten Sittenkodex auszurichten hat. Homosexualität ist da gesellschaftlich verhasst,
gilt als Krankheit und wird zugleich rabiat strafrechtlich verfolgt.
In Sprüngen von jeweils sieben Jahren erzählt Cyril von den irren Tänzen, zu denen ihn
seine sexuelle Ausrichtung zwingt. Manches ist schlicht bitter, anderes wiederum
tragikomisch, wenn er zum Beispiel durch einen Sprengstoffanschlag auf die
Admiral-Nelson-Säule vor einer harten Gefängnisstrafe wegen eines zaghaften Flirts in
einem Pissoir gerettet wird. Und er ausgerechnet im Bildungsministerium arbeitet, als
dessen strenger und selbstredend verheirateter Minister mit einem Lustknaben erwischt
wird.
Die Absurditäten seines unterdrückten wahren Ichs steigern sich jedoch noch, als er 1973
durch den skurrilen Zwang der Umstände Alice heiraten soll, die Schwester Julians. Irland
ist immer noch furchtbar reaktionär und bigott und Cyril hat sich geschworen: Ich
würde normal sein, und wenn es mich umbrächte. In seiner Not gesteht er Julian,
dass er ihn und nicht Alice liebe, doch der zwingt Cyril erbost zu der Heirat.
Welch ein Sprung dann aus dem Chaos, ja, von der Hochzeitsfeier weg die Flucht ins
ungleich liberalere Amsterdam. Wo er endlich auch so etwas wie Zuflucht und Heimat findet.
Und in dem Arzt Bastiaan den Mann seines Lebens. Doch auch in den Niederlanden gibt es
gefährliche Situationen für bekennende Schwule und schließlich hat Bastiaan Anfang der
80er Jahre mit den Forschungen an einer neuen grassierenden Krankheit zu tun, die schnell
als Schwulenseuche gebrandmarkt wird.
Sieben Jahrzehnte umspannt der Lebensbericht des Cyril Avery, der mit elementarer Wucht
fesselt und zugleich mit eleganter Leichtigkeit voller Sarkasmus, Humor und menschlicher
Wärme nie in bodenlose Tiefen taumeln lässt. Traurigkeit und Freude, tiefe Zuneigung und
monströse Bigotterie die Facetten dieser Geschichte sind unglaublich und John
Boyne bewältigt sie mit schonungsloser Bravour.
Eine Jugend im reaktionär katholischen Irland, wo Homosexualität erst in den 90er Jahren
per Volksentscheid liberalisiert wird John Boyne bekennt im Interview, wie viele
eigene Erfahrungen er in diesen Roman eingebracht hat. Auch deshalb sind die Charaktere so
exzellent geraten und die Schilderung so authentisch und zutiefst menschlich. Diese
mitreißende und immer wieder auch bittere Tragikomödie endet schließlich in einem
schlichtweg grandiosen Epilog im Jahr 2015.
Fazit: ein einzigartiges Sitten- und Gesellschaftsgemälde und ganz sicher einer der
größten Romane, die das für seine Romanciers berühmte Irland in den letzten Jahren
hervorgebracht hat.
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