RALF ROTHMANN: DER GOTT JENES
SOMMERS
Februar 1945, die zwölfjährige Luisa Norff ist aus dem von ständigen Bombenangriffen
weitgehend zerstörten Kiel in die Sicherheit eines großes Gutshofes eine Stunde
außerhalb evakuiert. Ihre abgezehrte Mutter und die 19-jährige Schwester Billie leben
ebenfalls hier.
Mit einer Landschaftsbeschreibung dieser vermeintlich friedlichen Idylle beginnt Ralf
Rothmanns neuer Roman Der Gott jenes Sommers. Thematisch schließt er sich
seinem Welterfolg Im Frühling sterben an und jener Melker Walter, der dort
gegen Kriegsende als zwangsrekrutierter SS-Soldat zum unschuldigen Mörder wird, spielt
hier eine Nebenrolle, bevor er fort muss.
Recht komfortabel untergekommen ist die Familie hier, weil Luisas Halbschwester Gudrun mit
jenem SS-Hauptsturmführer Vinzent Landes verheiratet ist, der das Gut für den
Reichsnährstand verwaltet und später ganz in Besitz nimmt. Während über ihnen die
Bomberströme nach Osten ziehen und der tobende Krieg rundherum als weit weg erscheint,
verbringt Luisa die meiste Zeit als Leseratte mit jedem der viel zu wenigen Bücher.
Die Mutter kränkelt vor sich hin und wenn der Vater mal aus Kiel herkommt, wo er das
Casino für die Marine führt und oft gute Dinge daraus abzweigen kann, ist er selten
nüchtern. Billie dagegen sucht in der verhassten Abgeschiedenheit jede nur mögliche
Lustbarkeit und prostituiert sich ungeniert für Annehmlichkeiten. Die Genusssüchtige
nimmt es dem Führer persönlich übel, dass er und sein Gesocks sie durch den
Krieg zum Rumhängen fern des städtischen Nachtlebens zwingt.
Luisa verliebt sich in aller Unschuld in Walter, den Melker, und erlebt mit ihm als
größte Intimität die gemeinsame Geburtshilfe für ein Kalb. Um so heftiger wird ihre
erste direkte Begegnung mit dem Krieg. Sie besorgt nicht nur morgens das Milchholen, sie
bringt auch Lebensmittel in ein nahes Behelfslazarett. Wie sie dort einem ganz jungen,
beidseitig beinamputierten Soldaten die Stiefel ausziehen soll, gehört zu den bittersten
Szenen des gesamten Romans und Ralf Rothmann hat sie mit seiner meisterhaft beherrschten
lakonischen Präzision in unvergessliche Sätze gemeißelt.
Ohnehin wird der Krieg immer realer, sei es mit dem Ansturm von Flüchtlingen, die nun
für qualvolle Enge sorgen, sei es mit dem Absturz eines britischen Bombers in der Nähe.
Wo SS-Etappenheld Vinzent geradezu beiläufig zum Verbrecher wird, während der
herumhurende Herrenmensch andererseits ein pompöses Fest abhält. In der Ahnung des
nahenden Endes wird hier geprasst wie in besten Tagen.
Für Luisa aber endet die Feier bitter im Luftschutzkeller der Villa, Dorthin drängt der
lüsterne Schwager in der Totenkopf-Uniform das Mädchen und missbraucht es. Und
anschließend liegt sie auf den Tod danieder mit Typhus, den sie nur knapp überlebt.
Trotzdem gibt es noch eine Steigerung des Leidens für die Zwölfjährige. Da kann es kaum
verwundern, wenn sie zum Schluss emotionslos feststellt: Ich habe alles
erlebt.
Bei all dem hat der Autor noch eine ungewöhnliche dramaturgische Brechung eingebaut, die
in ihrer barocken Andersartigkeit in die Mordbrennerzeiten des Dreißigjährigen Krieges
führt. Was da ein Bredelin Merxheim als Chronist berichtet, entlarvt die offenbar
unverbesserliche Bestie, die der Mensch schon vor Jahrhunderten auch in diesem Landstrich
gewesen ist. Fazit: ein weiteres literarisches Meisterwerk, von geschliffener Intelligenz
und ebenso fesselnd wie dunkel nachhallend.
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