PAUL THEROUX: „MUTTERLAND“


Vorsicht vor diesem Buch, denn wer sich Mütter als liebende Wesen vorstellt und selbst eine solche hatte oder hat, könnte arg verstört werden von Paul Theroux' neuem Roman „Mutterland“. Im Mittelpunkt steht hier eine Mutter mit sieben lebenden Kindern und einer verstorbenen aber ständig gegenwärtigen Tochter als Matriarchin einer glücklichen Familie.
So jedenfalls wird sie im Städtchen Cape Cod allgemein angesehen und ist in Wahrheit eine lieblose manipulative Sklavenhalterin voller ungeduldiger, fordernder Grausamkeit. Der das erzählt, muss es wissen, denn er ist einer der beiden schriftstellernden Söhne der Familie, der nach dem Tod des Vaters wieder in die alte Heimat gezogen ist.
Und wer diesen Roman des berühmten Reiseschriftstellers liest, kann kaum übersehen, wie autobiografisch das Alles offensichtlich ist, denn seine Familienverhältnisse und seine Vita sind beinahe kongruent mit denen dieses Jay Justus. Ihm gegenüber ist die herrschsüchtige Narzisstin vor allem misstrauisch und hält im Übrigen Schriftstellerei für gänzlich sinn- und wertlos. Ein Urteil, an dem selbst erste Bucherfolge nichts ändern können.
Noch schlimmer aber wirkt sich aus, dass sie jedes Kind anders behandelt und die Geschwister immer wieder genüsslich gegeneinander aufhetzt. Und der Vater? Pleite gegangen, kränklich und ein zwanghafter Geizkragen. Vor allem aber ein solcher Feigling, dass er die Kinder immer wieder mit dem Riemen züchtigt, weil seine selbstherrliche Ehefrau es so erwartet.
Nun mit 83 Jahren ruft sie die längst erwachsenen und doch nie richtig erwachsen gewordenen Kinder zusammen, weil Vater auf den Tod erkrankt im Krankenhaus liegt. Wo sie dann bestimmt, dass das Beatmungsgerät abgestellt wird. Und keines der Kinder widerspricht, denn sie stellt klar: „Es ist das Beste so.“ Der Einzige, der diese unmenschliche Anmaßung heimlich unterläuft, während die übrigen im Restaurant tafelt, ist Jay, der dem angstvoll Sterbenden die Hand hält.
Sein Fluchtinstinkt funktioniert inzwischen nicht mehr wie früher, als er sich der Willkürherrschaft einfach durch Fortgehen entzog. Das gilt jedoch gleichermaßen für die furchtbare Horde seiner Geschwister, alle ebenso psychisch verbogen wie der Beziehungsversager Jay. Und gerade er buhlt bei der notorischen Spielverderberin bis zuletzt vergebens um den geringsten Hauch von Anerkennung. Und diese Schreckensgestalt einer Mutter, wie man sie wahrlich niemanden an den Hals wünscht, wird auch noch über 100 Jahre alt.
Sprachlich brillant seziert der gallige Ich-Erzähler ihren unerträglichen Charakter, all ihre Hinterhältigkeit und Gemeinheit. Aber auch, wie es jeden in der Familien zum seelischen Krüppel voller Lügen und Schauspielerei macht. Wenn dieser Roman dennoch nicht das vielleicht mögliche grandiose Familienepos geworden ist, so liegt das am Fehlen einer großen Geschichte.
„Mutterland“ beschreibt eher die Dauersituation einer ganz und gar misanthropischen Familienhölle und glänzt viel zu selten mit Ansätzen von schwarzem Humor, als dass man sich an der ätzenden, entlarvenden Satire ergötzen könnte. Und – man muss es abschließend leider so deutlich sagen – nicht einmal der Ich-Erzähler erscheint wirklich sympathisch.

# Paul Theroux: Mutterland (aus dem Amerikanischen von Theda Krohm-Linke); 653 Seiten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg;

€ 28

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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