ANJA KAMPMANN: WIE HOCH DIE
WASSER STEIGEN
Es ist ein schales Privileg, dass die Männer mit dem Hubschrauber zu ihrer
Ölbohrplattform fliegen dürfen. Um so karger, einsamer und anonymer präsentiert sich
der Alltag da draußen und um so brachialer empfindet es Waclaw Groszak, als nun sein
langjähriger Kollege und Freund Matyas in einer sturmumtosten Nacht spurlos verschwindet,
offenbar ins Meer gestürzt.
Damit und dass mehr als ein vorübergehender Schock für die Mannschaft nicht drin ist,
kann nur Waclaw nicht fertig werden. Und damit beginnt auch Anja Kampmanns Debütroman
Wie hoch die Wasser steigen. Waclaw, Anfang 50 und seit zwölf Jahren auf den
Bohrplattformen der Welt unterwegs, nimmt Urlaub, um Matyas' Utensilien persönlich zu
dessen Familie zu bringen.
Womit eine Odyssee einsetzt, die ihn zunächst in die trocken-heiße Weite Ungarns zur
Halbschwester Patrizia führt. Von dort geht die unstete Reise nach Malta, wo Waclaw aus
steuerlichen Gründen seine wenigen Privatsachen eingelagert hat, aber auch eine
Gelegenheitsbraut besucht. Zwischendurch blitzen Erinnerungen an Milena auf, seine einzige
Liebe, die ihn jedoch verlassen hat.
Auch mit ihr war dem Rastlosen keine gemeinsame Heimat vergönnt. Sie, die aus Polen
stammte wie auch seine Eltern, die einst von dort ins Ruhrgebiet ausgewandert waren
findet er auch nicht wieder, als er sie in ihrem alten Dorf sucht. Doch so wie er
viele Jahre im Niemandsland gelebt und gearbeitet hat, so kennt er auch jetzt keine
Wurzeln mehr. Wenn er denn je welche hatte.
Eine Erinnerung an so etwas wie Heimat tut sich erst auf, als er in den italienischen
Alpen Alois aufsucht, einst ein Kumpel seines Vaters als Bergmann. Der ihm als Jungen
damals die Faszination für Brieftauben eröffnete. Und die sind mit ihrem einzigartigen
Heimfindungsvermögen ein ganz starkes Motiv dieses Romans, denn just das fehlt dem
Wurzellosen.
Melancholisch folgt er schließlich Alois' Wunsch und nimmt eine seiner Tauben mit auf die
Heimreise ins Ruhrgebiet mit einem alten Pick-up. Mag die dort von einer Halde in die Luft
geworfene Taube auch mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihrem heimatlichen Schlag in den
Alpen zurückfinden, Waclaw hat solche Fähigkeiten schon lange verloren. Heimat bleibt
vage und im Ungefähren, wie auch seine Suche nach Milena ins Leere läuft.
Anja Kampmann erweist sich mit ihrer geradezu schmerzlich unsentimentalen Prosa als eine
Meisterin des Atmosphärischen. Man spürt diese Rastlosigkeit Waclaws, der kein Ziel mehr
kennt und nur in der Person des offenbar seelenverwandten Matyas einen gewissen
Orientierungspunkt fand. Fazit: ein starkes Debüt, das zuweilen beklommen innehalten und
zugleich eine große Erzählerin entdecken lässt.
|