HANS-WILHELM MÜLLER-WOHLFAHRT:
MIT DEN HÄNDEN SEHEN
Er gilt als der renommierteste Sportmediziner der Welt und so manche Sportgröße nennt
ihn wegen seiner ganz speziellen Diagnose- und Therapiefähigkeiten einen Magier: Dr.
Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. Nun hat der von Freunden seit Schülertagen
Mull genannte Arzt seine lang erwartete Autobiografie vorgelegt.
Mit den Händen sehen lautet der Titel, mit dem er bereits seine besondere
Gabe bei den blitzschnell erforderlichen Diagnosen zum Beispiel bei einem Spiel des FC
Bayern München umschreibt. Offen, gut verständlich und angenehm unprätentiös schildert
der inzwischen 75-Jährige (was man ihm jedoch überhaupt nicht ansieht) Mein Leben.
Meine Medizin. Meine Patienten.
Einführend beschreibt er seinen Weg aus dem Pastorenhaus im ostfriesischen Dorf Leerhafe
bis zum Medizinstudium in Kiel. Als Schüler war der jüngste von drei Brüdern ein fauler
Strick, der außer mit der täglichen Musik (Klavier, Posaune, Orgel) noch mehr Zeit mit
dem Sport verbrachte und einige beachtliche Erfolge als Leichtathlet erzielte. Immerhin
gründete er jedoch mit seinem besten Freund 1958 die noch heute existierende Old
Marytown Jazzband an seinem Schulort in Jever.
Wie sehr das Elternhaus seine Persönlichkeit beeinflusste, sagt er selbst mit klaren
Worten: Glaube, Musik und Disziplin haben mich geprägt. Allerdings war der
strenge Vater gegen das gewünschte Medizinstudium, denn der Arztberuf verderbe den
Charakter. Als dem Jungen dennoch die Erlangung eines Studienplatzes gelang, gab die
Leidenschaft für den Sport die Zielrichtung Orthopädie vor. Und dann erfolgte eine
dieser vielen glücklichen Fügungen seines Lebens.
Soeben verheiratet mit seiner Karin, die in Berlin vorm Examen stand, meldete sein
Professor Fritz Hofmeister den jungen Mediziner als Teamarzt bei Hertha BSC an. Eigentlich
wollte der 1975 gerade Vizemeister gewordene Bundesligist ja den Professor selbst haben,
doch der hatte zu wenig Zeit. Wie sich Mull in dieses Metier hineinkniete mit
großem Ehrgeiz und vielen innovativen Ideen, das sprach sich derartig herum, dass im
April 1977 der weichenstellende Anruf schlechthin kam.
Bayern München hatte dreimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister gewonnen
und nun wollten Vereinspräsident Robert Schwan und Trainerlegende Dettmar Cramer einen
neuen jungen Teamarzt. Daraus entwickelte sich eine so enge Beziehung wie keine zweite im
deutschen Fußball. Nicht nur für reine Sportenthusiasten liest es sich fesselnd und vor
allem außerordentlich authentisch, was Müller-Wohlfahrt mitten aus dem Geschehen
erzählt.
Die Autobiografie ist dazu von Herausgeber Friedrich-Karl Sandmann mit etlichen
Fremdkapiteln angereichert von namhaften Weggefährten und Patienten wie Jupp Heynckes,
Ottmar Hitzfeld, Boris Becker aber auch Herbert Grönemeyer. Und so wie Franz Beckenbauer,
den Müller-Wohlfahrt im Übrigen sehr bewundert, ihn einen Zauberer nennt, ist
Bundestrainer Jogi Löw fasziniert von den direkten Diagnosen: Er macht das mit
seinen Händen, die irgendwas Magisches haben müssen.
Entsprechend spannend lesen sich auch die Passagen über die Weltmeisterschaft 2014 in
Brasilien und das mitentscheidende Wirken des Doc. Hier bekommt man einen
Einblick ins Physiologenlager des Teams und warum z.B. Bastian Schweinsteiger und Sami
Khedira jeweils nur abwechselnd eingesetzt wurden. Müller-Wohlfahrts Rat nach
überstandenen Verletzungen war hier ausschlaggebend, wie er ja ohnehin über Jahrzehnte
hin Zusammenarbeit zwischen medizinischem Lager und Trainerstab revolutioniert hatte.
Was dann jedoch zu einer der schmerzlichsten Veränderungen im Leben des
erfolgsverwöhnten und längst weltweit gerühmten Sportarztes führte. Ungeachtet dessen
scherte sich der 2013 vom FCB geholte neue Trainer Pep Guardiola nicht um solche Meriten:
Die Kultur des gegenseitigen Respekts ging verloren. Und mit bemerkenswert
scharfen Worten charakterisiert Müller-Wohlfahrt Guardiola als Mann mit schwachem
Selbstbewusstsein, der offenbar in ständiger Angst vor dem Verlust von Macht und
Autorität schwebe.
Den renommierten Vereinsarzt der ja zudem seit Jahrzehnten auch eine erfolgreiche
Orthopädie-Praxis in München innehatte sah er in der Rolle eines
Befehlsempfängers. Doch Müller-Wohlfahrt kritisiert nicht nur das völlig unangemessene
Miteinander sondern auch Guardiolas Arbeit als vermeintlich revolutionärer Trainer:
Er drehte die Uhr gewaltig zurück.
Dabei musste der Katalane ausgerechnet mit seinem Lieblingsspieler Thiago eine bittere
Schlappe einstecken, als der sich verletzte. Mit Müller-Wohlfahrts Methoden sollte die
Genesung sieben Wochen dauern, doch der Trainer schlug die Vorschläge in den Wind und
schickte den Spieler zur OP in seine Heimat. Endergebnis: alles ging schief und Thiago
fiel ein Jahr aus.
Und der Eklat zwischen den beiden Alpha-Männern kam unausweichlich am 15. April 2015 nach
der 1:3-Niederlage im Champions-League-Spiel in Porto. Nach dem der Trainer
Müller-Wohlfahrt vor versammelter Mannschaft als Verursacher des schlechten Zustands der
Spieler herunterputzte. Präsident Uli Hoeneß bedauert in seinem Gastkapitel, dass er zu
dieser Zeit verhindert war, vermittelnd einzugreifen (Haftstrafe wegen
Steuerhinterziehung).
Müller-Wohlfahrt blieb jedoch Teamarzt der Nationalmannschaft und setzte sich nach
Guardiolas Abgang auch wieder auf die Bank seines Herzensclubs. Doch es gibt da auch noch
andere Erfolgsgeschichten, allen voran die von der außergewöhnlichen
Arzt-Sportler-Beziehung, die 2002 einsetzte. Ein 16-jähriges Sprint-Talent mit
Wirbelsäulenproblemen wurde ihm vorgeführt. Und Müller-Wohlfahrt hatte laut weltweit
verkündeter Aussage von Usain Bolt entscheidenden Anteil daran, dass er zum einzigartigen
Jahrhundertläufer werden konnte.
So wie Müller-Wohlfahrt und seine Frau jeweils andeuten, dass sie trotz all der
Anerkennung und der vielen Freunde auch Verluste erlitten, weil sie von Vertrauten
hintergangen wurden, so kommt Mull zum Schluss noch einmal auf seine
ostfriesische Heimat zurück. Er habe nie vergessen, woher er komme und er nennt noch
einmal seinen beiden besten, bereits verstorbenen Freunde: Wolfgang Junge (der mit der
Jazzband!) und seit den frühen Münchner Tagen den berühmten Musikmanager Monty Lüftner
(Bertelsmann Musikgesellschaft).
Fazit: dieser bei allen Erfolgen bescheiden und sympathisch gebliebene Mann hat ungeheuer
viel zu erzählen und tut das auf eine herzerwärmend unverstellte Weise.
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