HOLGER SCHAEBEN: AM NACHMITTAG
KOMMT DER FÜHRER
Am 12. März 1938 überschritt Adolf Hitler am Nachmittag bei seiner Geburtsstadt Braunau
am Inn die Grenze und machte damit wahr, was er bereits 1924/25 in seinem Buch Mein
Kampf postuliert hatte: Deutschösterreich muss wieder zurück zum großen
deutschen Mutterlande.
Wie es zur handstreichartigen Einverleibung der Republik Österreich durch das Deutsche
Reich kam und wie gründlich sie in wenigen Monaten vollzogen wurde, das schildert nun
Holger Schaeben in seinem fesselnden Bericht unter dem Titel Am Nachmittag kommt der
Führer Schicksalsjahr 1938. Die dramatische Chronologie erstreckt er vom
Dezember 1937 bis zum Ende von 1938.
Seit 1934 hieß der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg (1897-1977) von der
Vaterländischen Front und als Austrofaschist war er Chef eines
Ständestaates. Die NSDAP war bei Strafe verboten, eine wirkliche Demokratie war dieser
kleine Staat gleichwohl nicht. Hatte der Kanzler auch am 7. Januar 1938 in London noch
öffentlich getönt: Ein Abgrund trennt Österreich vom Nationalsozialismus,
wurde er am 12. Februar quasi einbestellt von Hitler auf dessen Berghof auf dem
Obersalzberg an der Grenze zu Salzburg.
Der Autor schildert detailliert die brachiale Einschüchterungskulisse einschließlich
zweier bärbeißiger Generäle, in der Hitler unverhohlen klarstellte, er werde die ganze
sogenannte österreichische Frage lösen: So oder so! Und er diktiert das
Berchtesgardener Abkommen mit der entscheidenden Bestimmung: der
Nationalsozialist Arthur Seyß-Inquart soll österreichischer Innenminister werden und
damit auch die Kontrolle über die gesamte Polizei des Bundesstaates erhalten.
Was nun kommt, ist ein realer Politthriller, dessen Kapiteln der Autor jeweils entweder
Zeitungsmeldungen teils ganz allgemeiner Art wie über Wetterkapriolen
voranstellt oder Tagebucheintragungen von Joseph Goebbels. Doch ganz im Stile eines
hochkarätigen Dokudramas, wie man sie zum Beispiel von Heinrich Breloer im Fernsehen
kennt, unterfüttert auch Schaeben die unmittelbaren politischen Ereignisse mit
Erlebnissen exemplarischer Mitbetroffener.
Ausgesucht hat er zwei Musterbeispiele von Opfer und Profiteur. Da ist einerseits der
wohlhabende Kaufhausjude Walter Schwarz mit der großen Sippschaft und
andererseits der erst 24-jährige Fotoreporter Franz Krieger, anfangs nur insgeheim
nationalsozialistisch gesonnen. Beiden wie dem gesamten österreichischen Volk kündigt
Schuschnigg dann für Sonntag, dem 13. März, eine Volksabstimmung zur Unabhängigkeit
Österreichs an.
Die Nazis schäumen über diesen Winkelzug, doch Hitler ordnet sofort die Mobilmachung der
8. Armee an und droht mit dem Einmarsch. Unter dem massiven Druck sagt Schuschnigg am 11.
März die Volksabstimmung ab und die Ereignisse an diesem Schicksalstag der noch jungen
Republik überschlagen sich. Um 14 Uhr unterschreibt Hitler den Befehl zum
Unternehmen Otto und 65.000 Mann der Wehrmacht stehen zum Einmarsch bereit,
während in Wien das Bundeskanzleramt von SA- und SS-Aufmärschen umringt ist.
Seyß-Inquart übernimmt vom zurückgetretenen Schuschnigg und um 20.20 Uhr ergeht seine
Anordnung, den einmarschierenden deutschen Truppen keinen Widerstand zu leisten. Die
turbulenten Stunden enden im Einmarsch der Wehrmacht, noch am Abend seines Eintreffens in
Wien verkünden Hitler und Seyß-Inquart die sofortige Wiedervereinigung und
am 13. März 1938 tritt das entsprechende Gesetz in Kraft.
Am 15. März erfolgt auf dem Wiener Heldenplatz Hitlers berüchtigte Mitteilung ans Volk:
Ich verkünde hiermit den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich. Was in
den folgenden Monaten im ganzen Land geschieht, wie umfassend und radikal die
Ostmark dann eingedeutscht wird, schildert Schaeben in packenden detaillierten
Ausführungen. Im Mittelpunkt stehen dabei die authentischen Erlebnisse vor allem von
Schwarz und Krieger.
Der rabiate Arisierungsprozess des Vermögens der jüdischen Kaufmannsfamilie, aber auch
die Verfolgung sämtlicher Juden und schließlich das schlimme exemplarische Schicksal des
58-Jährigen gehen tief unter die Haut. Dem steht ebenso beispielhaft der Aufstieg
Kriegers als Fotoreporter bis hin zur SS-Karriere gegenüber.
Fazit: ob historisch überlieferte oder dokumentarisch nachgezeichnete Szenen - diese
hochkarätige Geschichtsdarstellung ist in ihrer Art ebenso fesselnd wie überzeugend.
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