LJUDMILA ULITZKAJA: „JAKOBSLEITER“


Nora ist 32, als sie 1975 den kleinen Jurik bekommt. Und zur selben Zeit von ihrer soeben verstorbenen Großmutter Marussja eine Weidentruhe erbt, in der sie hunderte von Briefen ihres Großvaters Jakow Ossitzki findet, die eine bewegende Liebesgeschichte erzählen.
Das steht am Anfang von Ljudmila Ulitzkajas jüngstem Buch „Jakobsleiter“. Die Grande Dame der Gegenwartsliteratur Russlands und eine der kritischen Stimmen darin hat diesmal jedoch keinen fiktiven Roman geschrieben. Die Geschichte und ein sehr großer Teil der mehrschichtigen Handlungsstränge beruhen nämlich ganz wesentlich auf dem Briefschatz der eigenen Großmutter, denn Großvater Ossitzki hieß mit richtigem Namen Ulitzki und wurde 1890 in Kiew als Sohn eines jüdischen Mühlenbesitzers geboren.
Entlang seinem Leben und dem des Sohnes Genrich bis hin zu Enkelin Nora erzählt das Buch die private Leidensgeschichte vor der realen Historie vom Zarenreich bis ins postsowjetische Russland. Jakows Weg war voller Tragik und selbst die so leidenschaftliche Liebe zwischen ihm und Marussja hatte nur anfangs einige glückliche Momente.
Nach Weltkrieg und Revolution fiel der verhinderte Musiker und studierte Ökonom unter Stalins Repressionsfeldzug gegen die Intelligenzija. Dreimal verurteilte man ihn zu Lagerhaft in Sibirien und erst nach Stalins Tod wurde er 1956 rehabilitiert. Die Ehe mit Marussja besteht über mehr als 20 Jahre fast nur aus Liebesbriefen. Doch irgendwann gibt die Liebende, die einst ihren Traum von der Ausbildung zur Tänzerin ebenfalls wegen der widrigen Umstände aufgeben musste, das Schreiben auf und lässt sich sogar scheiden.
Der Sohn trägt überdies schwer an dem Ruf seines Vaters als Volksfeind und wird schließlich sogar zum Verräter – was Nora jedoch erst viel später herausfindet. Als Jakow aus der letzten Haft freikommt, ist er ein gebrochener Mann und stirbt noch vor seiner Rehabilitierung an einem Herzinfarkt. Aber auch Nora führt ein sehr bewegtes Leben mit komplizierten Ehe- und Liebesverhältnissen. Wobei deutlich spürbar wird, dass sie in starkem Maße als Alter Ego der Autorin fungiert.
Es ist eine dichte Prosa, üppig im Erzählen und zugleich von schnörkelloser Gradlinigkeit, die von Ganna-Maria Braungardt exzellent ins Deutsche übertragen wurde. Durch die Vielheit der Ereignislinien und Figuren, aber auch durch das Korsett der Führung entlang all der nichtfiktiven Fakten fehlt dem Roman allerdings etwas an erzählerischer Bewegungsfreiheit. So liegt mit „Jakobsleiter“ einerseits ein großes Werk zeitgenössischer Literatur vor realem Hintergrund vor, andererseits muss man sich viel Zeit nehmen, denn dieses Buch liest sich bei allen Qualitäten recht schwergängig.

# Ljudmila Ulitzkaja: Jakobsleiter (aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt); 608 Seiten; Hanser Verlag, München; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: NF 342 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de