MAGNUS BRECHTKEN: „ALBERT SPEER“


Auch Albert Speer stand 1946 vor dem Tribunal des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher. Doch der Rüstungsminister und enge Vertraute Hitlers redet seinen Kopf erfolgreich aus der Schlinge, die ihm wie etlichen der Nazi-Größen eigentlich sicher war. Reumütig zeigte er sich, allerdings machte er auch glaubhaft, dass er ein reiner unpolitischer Technokrat gewesen sei ohne Kenntnisse oder gar Beteiligung an den Nazi-Verbrechen.
So kam er mit 20 Jahren Haft davon und machte nach der Entlassung ab 1966 sogar eine höchst lukrative Karriere als Autobiograf und professioneller Zeitzeuge, Bis zu seinem Tod im Jahr 1981 lebte er wie in der Jugend in großbürgerlichen Verhältnissen und wurde dabei international hofiert als eine Art „verführter Intellektueller“ und quasi ein „guter Nazi“.
Aber – war der „Baumeister der Bewegung“, der „Großbauinspektor für die Reichshauptstadt“ und effektive Antreiber der deutschen Kriegsproduktion wirklich ein solches Unschuldslamm inmitten des verbrecherischen Wolfsrudels gewesen? Wie sehr die Selbstinszenierung des gelernten Architekten in Wirklichkeit durch und durch auf Lügengebäuden beruhte, belegt die große, ungeheuer detaillierte Biografie von Magnus Brechtken.
Unter dem Titel „Albert Speer. Eine deutsche Karriere“ entlarvt der stellvertretende Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und Professor an der dortigen Universität den umtriebigen Manipulator bereits während seiner ersten Lebenshälfte als solchen. Schon die Beschreibung seiner Kindheit, Jugend und Studienzeit offenbart Ungereimtheiten und auch mit dem Weg in die NSDAP – Mitglied bereits ab Frühjahr 1931 und nach kurzem Zwischenspiel in der SA und bald stattdessen in der SS – geht er sehr kreativ um.
Das gilt ebenso für den mit extremem Ehrgeiz beharrlich und flexibel betriebenen Einstieg in den engsten Dunstkreis des Führers. Stattdessen ummäntelte er in seinen millionenfach verkauften Autobiografien „Erinnerungen“ (1969) und „Spandauer Tagebücher“ (1975) sein Auftreten als eigentlich unpolitischer Funktionsträger, der nicht einmal ein richtiger Nazi war – und er schürt sogar die Munkelei, gegen Kriegsende so widerständig gewesen zu sein, dass er gar einen Mordanschlag auf den Führer erwogen habe.
Und genau das wurde in der Zeit der Veröffentlichungen nach den Auschwitzprozessen vom bürgerlichen Publikum als willkommene Verharmlosung entgegengenommen. Dabei war der Ehrgeizling, der sich in den letzten Jahren des Dritten Reichs durchaus als potentieller Nachfolger Hitlers sah, stets mittendrin gewesen. Der vorgegebenen Unwissenheit über die Judenvernichtung und deren genaue Vorgänge standen nicht nur die enge Zusammenarbeit mit SS-Chef Himmler beim Bau von Teilen des Vernichtungslagers Auschwitz entgegen.
Bei seinem zweiten Besuch dort im Juli 1942 soll ihm sogar die Ermordung holländischer Juden in einer Gaskammer vorgeführt worden sein. Auf keinem Fall zu leugnen war seine Inspektion der unteriridischen Raketenproduktionsstätten im Werk Mittelbau-Dora im Harz, wo Juden und andere Zwngsarbeiter zu tausenden als Sklaven verheizt wurden. Und hätte es eines letzten Beweises um seine Mitwisser- und Mittäterschaft noch bedurft, so fand sich 25 Jahre nach seinem Tod ein Brief, in dem er genau dies niederschrieb. 1971 bestätigte er darin, wie er die letzte Gewissheit über den Holocaust erhielt: „Ohne Zweifel war ich dabei, als Himmler am 6. Oktober 1943 ankündigte, dass alle Juden umgebracht würden.“
Doch schon viel früher gab es das Eingeständnis, das offenbar niemand öffentlich aufspießte. Die Zeitschrift „Quick“ zitierte in einer Serie über den Häftling von Spandau, in der sie ihn quasi zum insgeheimen Widerstandskämpfer hochstilisierte, er habe tausende von Juden nur deshalb für kriegswichtige Produktionen angefordert, um sie vor dem Tod in den Gaskammern zu retten. Womit er sich genau das Mitwissen attestierte, dass er ansonsten stets ableugnete.
Wie aber konnte die „Lügenhaftigkeit“ all der Fabeln und Legenden so lange Bestand haben? Als Erster enttarnte ihn Heinrich Breloer 2005 mit seiner mehrteiligen Fernsehdokumentation, Historiker Brechtken aber geht noch viel weiter und baut das neue, der Wahrheit vermutlich ganz nahe kommende Porträt Speers auf jahrelangen intensiven Recherchen auf. Und er äußert sein Erstaunen, wie ungeheuer reichhaltig und umfassend die Quellenlage in allgemein zugänglichen Archiven offenbar seit Jahrzehnten ist.
Allerdings wirft er den bisherigen Biografen Speers nicht nur die Nichtbeachtung dieses Quellenmaterials vor. Massiv kritisiert er das völlige Versagen von Wissenschaft und Journalismus und dabei allen voran die Publizisten Wolf Jobst Siedler und Joachim C. Fest. Gerade Letzterer habe sich mit seiner Unlust am Quellenstudium und dem unwissenschaftlichen Nachplappern der Speerschen Selbstinszenierungen schuldig gemacht an dem hehren, völlig falschen Bild des Nazi-Verbrechers.
„Der eigentliche Skandal vieler Fest-Publikationen liegt darin, dass er bis zuletzt und immer wieder Legenden, Lügen und Märchen nacherzählte, ihnen sogar stilistischen Glanz verlieh und diese Kolportagen als Geschichtsschreibung verkaufte.“ Und wenn Historiker Brechtken in seiner fulminanten Revision Fest wie auch den späteren Verleger Siedler als „zwei ideale Mitkonstrukteure für seine (Speers) Fabelgeschichten“ der massiven Geschichtsklitterung beschuldigt, dann entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass diese brillant verfasste und längst überfällige Revision ausgerechnet im Siedler-Verlag veröffentlicht wurde.

# Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere; 910 Seiten, div. Abb.; Siedler Verlag, München; € 40

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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