ALICE GABATHULER: HUNDERT
LÜGEN
Unter den Sanierern maroder Unternehmen gehört Stig Mortensen zu den härtesten und
skrupellosesten. Was nicht ohne Folgen bleiben kann. Nun aber gibt es Drohungen direkt
gegen seine älteren Kinder Kris und Manon. Seit zehn Jahren leben sie in Internaten, nun
beordert er sie schnellstens in sein aktuelles Domizil, eine geradezu festungsartige Villa
in der Schweiz.
Und mit der unwilligen Heimreise des 17-jährigen Kris beginnt denn auch der jüngste
Psychothriller der vielgerühmten Schweizer Jugendbuchautorin Alice Gabathuler.
Hundert Lügen lautet der Titel und die durchziehen wie auch manche verborgene
oder verdrängte Wahrheiten diese Geschichte. Die schon in den ersten Kapiteln eine hohe
Sogwirkung erzeugt, obwohl hier das Kennenlernen der komplizierten Verhältnisse noch
nicht die volle Rasanz aufweist.
Kris hat seine zwei Jahre jüngere Schwester Manon seit einem traumatisierenden Erlebnis
nicht mehr gesehen und ihr Wiedersehen in der Villa ist voller Anspannung. Das liegt zwar
auch an den offenbar bedrohlichen Umständen wie auch an der neuen Familie des
herrisch-unnahbaren Vaters. Vor allem aber bedrückt beide Geschwister eine alte Schuld
aus jenen Kindertagen. Wo Kris darunter leidet, seine kleine Schwester damals im Stich
gelassen zu haben, führte Manon die Schuld daran, dass sie ihn durch Verrat fast in den
Tod hat stürzen lassen, nicht nur zu autoaggressiven Anwandlungen.
Es gehört zu den herausragenden Qualitäten dieses Romans, dass Kris und Manon
abwechselnd als Ich-Erzähler auftreten, also auch der Leser nicht mehr weiß als der
jeweilige Protagonist. Und in Beiden schwelen die Selbstvorwürfe, doch die Ereignisse
überschlagen sich bald, denn schon früh gibt es einen ersten Entführungsversuch. Den
die Personenschützerin Ella allerdings parieren kann.
Die beiden Teenager aber benehmen sich alles andere als handzahm. Zum Einen rumort da der
alte Groll, dass nach den Ereignissen von 2007 die Familie zerbrochen ist und ihre
geliebte Mutter sie verließ, ohne sich je wieder zu melden. Andererseits erfahren sie von
jüngsten Vorwürfen gegen den Vater, dem die Schuld an einem Mineneinsturz in Tansania
vorgeworfen wird.
Dann jedoch kommen die ersten Einschübe, Rückblenden auf jenen Juli 2007 in einem Camp.
Wo die unbedarften Kinder durch die Eiskönigin und den finsteren Ritter
eher malträtiert als bespaßt wurden. Je mehr man in dieses Geschehen zurückgeführt
wird, desto mehr sträuben sich einem die Nackenhaare über so viel Herzlosigkeit des
Vaters, denn er hat sie in das Camp geschickt, das die Kleinen in jeder Beziehung
überfordert und schwere psychische Dauerschäden verursacht.
Bis in die Gegenwart traumatisiert, geraten die Beiden mehr getrennt voneinander
als gemeinsam in einen immer verzwickteren rasanten Taumel von Ereignissen, die in
einer erneuten Entführung gipfeln: Manon und ihre kleinen Halbgeschwister sind
verschwunden. Während Kris seinen eigenen Weg zu gehen versucht und Aufschlussreiches
durch die Aktivistengruppe Scales of Justice erfährt, geraten er und Manon
bei den Sicherheitsleuten des Vaters in den Verdacht, selbst hinter den Machenschaften zu
stecken.
In der Tat lassen immer neue Erkenntnisse einen Racheakt möglich erscheinen, zumal das,
was 2007 wirklich geschah, noch ganz andere Dimensionen bekommt, als lange Zeit
angenommen. Mehr aber sei von diesem packenden Psychothriller nicht verraten, der durch
seine schnörkellose direkte Sprache ebenso überzeugt wie durch die psychologisch
realistischen Charakterzeichnungen.
Fazit: ein virtuoses Stück Hochspannungsliteratur, das wegen mancher Härten und der
überaus dunklen Grundstimmung erst ab 16 Jahren zu empfehlen ist. Aber auch Erwachsene
werden an diesem im Übrigen absolut filmreifen Roman ihre Freude haben.
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