PIETER M. JUDSON:
HABSBURG
Das Kaisertum Österreich-Ungarn ein müder Koloss auf tönernen Füßen, für den der
Erste Weltkrieg nur noch als längst fälliger Anstoß zum Untergang diente? Diesem weit
verbreiteten Mythos vom zum Tode verurteilten Vielvölkerstaat der Habsburger-Dynastie
widerspricht der Historiker Pieter M. Hudson entschieden.
In seinem großen Geschichtswerk Habsburg. Geschichte eines Imperiums.
1740-1918 widerlegt der Professor am Europäischen Hochschulinstitut Florenz diese
Deutungen und befindet sich dabei in guter Gesellschaft seitens der modernen Wissenschaft.
Seit dem Machtantritt von Maria Theresia über ihre Nachfolger bis hin zum Ausbruch des
Ersten Weltkrieg habe sich das Habsburgerreich kontinuierlich entwickelt. Dank kluger
Reformen war es fortschrittlich und vergleichsweise modern.
Im Inneren des Staates sorgten die bürokratische Zentralisierung und Vereinheitlichung
für ein funktionierendes Staatsgebilde. Verwaltung, Justiz und Bildungswesen waren
vereinheitlicht, während andererseits die Einheit in Vielfalt eine
weitgehende Integration der zahlreichen Volkseinheiten ermöglichte. Die Besteuerung des
Adels seit Maria Theresias Zeiten und vor allem die Beibehaltung des Rechts der einzelnen
Völker auf ihre jeweilige Sprache und Kultur wirkten sich diesbezüglich segensreich aus.
Dies und der Verzicht auf eine Verschmelzung zu einem einheitlichen Staatsgebilde
verhinderten ein Auseinanderdriften gegensätzlicher Kräfte seitens politischer oder
ethnischer Gruppierungen. Trotz widerstrebender Tendenzen wie Liberalen oder Föderalisten
oder auch großer nationaler Gruppen wie Tschechen und Ungarn richteten sich diese weit
überwiegend nicht gegen die Habsburger und das Reich als Ganzes.
Grundlegende Reformen wurden zwar gefordert, doch nicht die Auflösung des Reiches und
gerade an der Peripherie wurde die Monarchie sogar als Beschützerin gegen das Wirken der
Provinzfürsten angesehen. Der Kaiser galt als Gegengewicht und Schutzmacht gegen den
örtlichen Adel und auch das macht verständlich, dass insbesondere der ewige
Kaiser Franz Joseph auf dem Thron von 1848 bis 1916 als milder
Patriarch verehrt wurde und gewissermaßen als 'Corporate Identity' des Reiches von
großer Bedeutung war.
Ob Deutschösterreicher oder Ungarn und Slawen, es gab nationalistische Fliehkräfte im
Reich, doch es gab keine schwerwiegenden oder gar existenzgefährdenden Konflikte in der k
& k-Monarchie. Erst Nationalismus von außen und hier insbesondere seitens Rumänen
und Serben stellten den Bestand des Habsburgerreiches in Frage. Der fatale Wendepunkt für
den florierenden und an sich recht gesunden Vielvölkerstaat wurde erst der Entschluss
Österreich-Ungarns zum Krieg gegen die aggressiven nationalistischen Balkanstaaten.
Der zermürbende Krieg zerstörte jeglichen Konsens der vielen Volksgruppen und ließ das
Reich gegen Ende kollabieren. Da schlugen die Reformbemühungen des jungen Kaisers Karl I.
fehl, der nach seinem Machtantritt Ende 1916 umgehend die Militärdiktatur aufhob und dem
nun immer virulenter werdenden Nationalismus das Völkermanifest
entgegensetzt, um das Reich in einen Bundesstaat umzuwandeln.
Doch die widerstrebenden Nationalströmungen wie auch die friedensverhindernde,
unentrinnbar enge Bindung an das Deutsche Kaiserreich lassen den Vielvölkerstaat zum
Kriegsende auseinanderfliegen und in etliche neue Nationalstaaten zerfallen. Diese
Auflösung zählt Historiker Judson denn auch mit zu den maßgeblichen Gründen, warum
angesichts der zur selben Zeit zerfallenden Vielvölkerstaaten Russland und Osmanisches
Reich der Mythos unverrückbar erschien, das Habsburgerreich habe zwangsläufig aus den
gleichen Gründen untergehen müssen.
Judson unterlegt seine Ausführungen nicht nur mit der Fülle der politischen Fakten auf
dem neuesten Stand der Forschung, er lässt immer wieder auch die gesellschaftlichen
Aspekte an den Peripherien einfließen. Und macht deutlich, wie sehr für all diese
Völker des weitgestreckten Imperiums die Habsburger Monarchie zumindestens bis zum
Kriegsbeginn 1914 doch Unser Reich war. Fazit: eine brillante und längst
überfällige Revision der Geschichte des Habsburgerreichs und mit allen Qualitäten eines
Standardwerks zum Thema.
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