CATHERINE MERRIDALE: „LENINS ZUG“


Als Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte, am 9. April 1917, damals der Ostermontag, am Züricher Hauptbahnhof mit seiner über 30-köpfigen Entourage eigens reservierte Eisenbahnabteile bestieg, begann die folgenreichste Zugreise der Weltgeschichte. An ihrem Ende stand die Oktoberevolution in Russland.
Viele Fakten sind bekannt und beschrieben, manche Legenden wurden gestrickt und Gerüchte aufgebauscht. Um so verdienstvoller ist Catherine Merridales Sachbuch „Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution“. Die Geschichtsprofessorin an der Queen Mary University in London gilt als eine der herausragendsten Kenner russischer Geschichte. Doch sie begnügte sich nicht mit intensiver Quellenforschung, stattdessen fuhr sie Lenins damalige Route bis nach Petrograd selbst nach.
Der von zaristischen Gerichten ins Schweizer Exil gezwungene Führer der militantesten Linkspartei brauchte damals acht Tage für die 3.200 Kilometer bis in die damalige russische Hauptstadt. Die Autorin kritisiert dabei bisherige Darstellungen, die Lenins Weg über Bahnstrecken führten, die es 1917 noch gar nicht gab. Doch auch die tatsächlich genutzte bis ins nordschwedische Haparanda war im letzten Abschnitt erst 1915 kriegsbedingt – zwecks Hilfslieferungen der Alliierten – fertiggestellt worden und eine direkte Bahnanbindung über den Grenzfluss ins finnisch-russische Tornio gab es auch weiterhin nicht.
Viel spannender aber ist die Frage nach den Hintergründen dieser ungewöhnlichen Aktion des Deutschen Kaiserreichs für einen Politiker aus einem Land, mit dem man in erbittertem blutigen Ringen lag. Außenpolitiker und Militärs planten nicht weniger, als Russland mit subversiven Mitteln aus dem Zweifrontenkrieg in den Frieden zu drängen und so den Rücken frei zu bekommen gegen die Alliierten im Westen.
Merridale schildert die schlechte Stimmung im Zarenreich mit schwersten Kriegsverlusten und Hungersnöten im Winter 1916/17, die schließlich zur Februarrevolution und der Abdankung des verhassten Zaren führte. Die neuen Machthaber waren jedoch viel zu patriotisch, um den Krieg mit einer Niederlage beenden zu wollen. Der ungeduldig im Exil schmorende Bolschewikenführer dagegen war als vehementer Kriegsgegner bekannt.
Natürlich wussten auch die alliierten Politiker um die Gefahr, dass die Rückkehr dieses revolutionären Anführers Bürgerkrieg, soziale Umstürze und sehr wahrscheinlich das Ausscheiden des Verbündeten aus dem Krieg nach sich ziehen würde. Erstaunlicherweise wagten Franzosen und Briten gleichwohl keinen Eingriff, als die Deutschen tatsächlich zur Tat schritten und die geheime Durchfahrt durch Feindesland bis in seine Heimat für den Aufrührer organisierten und durchführten.
Die Historikerin weist übrigens Behauptungen, die Oberste Heeresleitung hätte Lenin auch persönlich kontaktiert und mit Bankanweisungen geholfen, als nicht belegbare Gerüchte zurück. Andererseits beschreibt sie bei ihrer beinah minutiösen Chronik der achttägigen Reise viele interessante Details über die Reiseumstände, Lenins Auftreten und den Versuch diplomatischer Ränkespiele der Alliierten.
Lenin machte schon im Exil kein Hehl daraus, dass er eine weltweite kommunistische Revolution anstrebte. Im aufgewühlten Petrograd wurde er begeistert empfangen und mit Forderungen nach Frieden, Land und Brot gewann der charismatische Anführer erst die Soldaten und dann die Bevölkerung für sich. Als welch folgenschwerer Irrtum sich die deutschen Hoffnungen auf ihn erweisen sollten, kündigte der unerbittliche Agitator selbst bereits während der Rückfahrt in Stockholm an: „Die bolschewistische Führung der Revolution ist viel gefährlicher für die deutsche imperialistische Macht als die Führung durch Kerenski und Miljukow.“
Spannend wie in einem Roman schildert Catherine Merridale in ihrem exzellenten Sachbuch dieses historisch so folgenreiche Geschehen, das Winston Churchill später auf den hintersinnigen Satz herunterbrach: „Sie beförderten Lenin wie ein Pestbazillus in einem plombierten Waggon aus der Schweiz nach Russland.“

# Catherine Merridale: Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution (aus dem Englischen von Bernd Rullkötter); 384 Seiten, div. Abb.; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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