MARCEL NIEDEN (Hrsg.): "KETZER, HELD UND PREDIGER"


Für etwa die Hälfte aller Deutschen ist Martin Luther (1483-1546) eine positiv besetzte Integrationsfigur, obwohl er von Beginn seines Wirkens an polarisierte. Auch heute noch, da sich sein legendärer Anschlag der 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober zum 500. mal jährt.
Und wohl kein anderer Deutscher wurde und wird derartig oft dargestellt, in prosaischen und poetischen Texten behandelt sowie mit Gedenktagen und Jubiläen gefeiert wie der unbekannte Augustinermönch, der zum weltbewegenden Reformator wurde. Für diese ungebrochen überragende Präsenz gibt es viele Faktoren. Dieser großen Wahrnehmung und Aneignung Luthers in der deutschen Erinnerungskultur haben sich Marcel Nieden als Herausgeber und vier weitere namhafte Experten für Kirchengeschichte mit einem opulenten Bildband angenommen.
Unter dem Titel ?Ketzer, Held und Prediger: Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen? präsentieren sie eine epochen- und genreübergreifende Bilddokumentation zu 500 Jahren Luther-Rezeption. Mal Feindbild als Ketzer, mal Hoffnungsträger, suchte Martin Luther noch zu Lebzeiten mit starker Selbstinszenierung die Deutungshoheit über sich und sein Werk zu festigen. Noch wichtiger aber wurden die biografischen und sonstigen Schriften und Darstellungen gegenüber den vielen Gegnern nach Luthers Tod.
Er selbst nannte sich ?Doktor der Heiligen Schrift?, ?Prediger und Evangelist?, selten dagegen Reformator. Für den Bestand seines Wirkens unverzichtbar waren die vielen bildlichen Darstellungen von Beginn an, die zugleich in den einzelnen Epochen eng verbunden waren mit dem jeweiligen Luther-Verständnis. Da stand ab dem ersten Jubiläum von 1617 das Schwan-Motiv als kennzeichnend, das besonders im norddeutschen Raum stark verbreitet war und offenbar auf den Sinnspruch ?Was eine Gans gedacht, hat dieser Schwan vollbracht? beruhte, wobei dem Reformator Jan Hus das Sinnbild der Gans zugedacht wurde.
Doch die Experten belegen auch, dass das Lutherbild in deutschen Landen nie nur theologisch, aber auch nie nur politisch besetzt war. Da wurde Luther 1817 nach der Überwindung Napoleons und dem Aufkommen der Restauration als Freiheitsheld gepriesen und musste zum 400-jährigen Jubiläum im tobenden Ersten Weltkrieg sogar eine arge militärisch-heroische Vereinnahmung durch das Kaisertum hinnehmen.
Doch auch in der Neuzeit gab es Beispiele der Verehrung, die nicht bei jedermann gut ankamen. Wie Ottmar Horls ?Lutherzwerge?, ein Meter hohe Nachbildungen der berühmten Luther-Statue von Johann Gottfried Schadow von 1821. 800 Exemplare dieses Projektes der EKD standen 2010 auf dem Wittenberger Marktplatz und wurden später als ?Lutherbotschafter? über ganz Deutschland verteilt. Fazit: eine großartige umfassende Darstellung der vielfältigen Stilisierungen eines der größten Deutschen überhaupt über nunmehr fünf Jahrhunderte.

# Marcel Nieden (Hrsg.): Ketzer, Held und Prediger: Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen; 248 Seiten, div. Abb., Großformat; Lambert Schneider Verlag, Darmstadt; ? 49,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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