GAY TALESE: „DER VOYEUR“


Spätestens seit Gerald Foos dem heimlichen Beobachten seiner attraktiven Tante bei ihrem Nacktwandeln im Haus verfallen war, wurde der Voyeurismus zur Obsession für ihn. Mit Anfang 30 fand er dann in den 60er Jahren als Betreiber eines Motels den idealen Dreh, um seinen Neigungen ausgiebig frönen zu können.
Er kauft sich in Aurora, Colorado, eine ordentliche mittelständischer Herberge und präparierte 12 von 21 Zimmern. 15 x 35 cm große Löcher schnitt er in die Zimmerdecken und verkleidete sie mit Aluminiumblenden, damit sie wie Luftschächte erschienen. Bei diesem erheblichen handwerklichen Aufwand, um das Miteinander von Sehen und Nichtgesehenwerden möglichst perfekt zu gestalten, half ihm Ehefrau Donna.
Von nun an kroch er fast täglich unter das recht flache Dach und begann seine Beobachtungen. Seine Begierde war realer Sex, den er in allen Schattierungen sehen wollte: „wie Menschen sich wirklich sexuell verhalten, also privat, in den eigenen vier Wände“. Das Echte, Unverstellte sollte es sein und nicht wie die Inszenierungen in Porno-Filmen.
Aber eben auch nicht das Ausleben echter Sex-Aktivitäten unter Laborbedingungen wie bei den berühmten Seuxualforschern. Allerdings machte Foos wie diese penible Aufzeichnungen fast sämtlicher Beobachtungen. Bei all dem aber berief er sich auf seine grenzenlose Neugier, mit der er seine Studien betrieb, denn er sah sich keineswegs als „gestörten Spanner“.
Was ihn schließlich 1980 veranlasste, an den für seine provokanten Berichte berühmten Journalisten Gay Talese mit der Idee heranzutreten, aus all dem ein Buch zu machen. Talese besuchte Foos und ließ sich sogar auf eine Kostprobe aus eigenem Erleben unterm Dach ein.
Dass es dennoch noch Jahrzehnte dauern sollte, bis aus den Aufzeichnungen ein Buch wurde, hatte zwei gewichtige Gründe. Zum Einen war Talese von der Idee erst mal gar nicht angetan, vor allem aber wollte Foos natürlich seinen Guckposten nicht aufgeben. Und nopch weniger wollte er juristisch belangt werden, was ihn unweigerlich ruiniert und vor Gericht gebracht hätte.
Längst ist das Motel inzwischen verkauft und der obsessive Spanner ein alter Mann, als nun Talese doch noch „Der Voyeur“ verfasst und selbst so lange danach noch einen gelinden Skandal damit auslöst. Tatsächlich ist dieses erzählende Sachbuch ein seltsames Machwerk, das ebenso fasziniert wie abstößt. Der Autor übernimmt die äußerst explizit geschilderten „Berichte“ einzelner Beobachtungen und lässt auch manche unappetitliche Details nicht aus.
Mal sind es ganz normale Paare, die ihrem Begehren mehr oder weniger intensiv und auch fantasievoll nachgehen. Mal geht es auch um speziellere Praktiken, um homosexuelle Paare und Gruppensex. Foos hält einerseits penibelste Daten und Details für seine „Statistik“ fest, andererseits lässt er sich häufig auch zu eigenem Handanlegen anregen. Was er ebenso niederschreibt wie die Fälle, in denen Ehefrau Donna mit zuschaut und sich beim Beobachten sexuell mit ihm befasst.
Talese lässt durchaus Zweifel an der Zuverlässigkeit seines Chronisten erkennen, der zu Ungenauigkeiten und vermutlich auch zu Ausschmückungen neigt. Andererseits sind die statistischen Beobachtungen z.B. über Ausmaß und Art des ausgeübten Treibens wegen der sich unbeobachtet wähnenden Probanden von gewissem wissenschaftlichen Interesse – wenn sie nur eben wegen der Erhebensweise nicht so fragwürdig wären.
Für den Leser dieses ominösen Buches fällt die Lektüre deshalb wie auch wegen der selbstgefälligen Widersprüchlichkeit des Voyeurs zumindest zwiespältig aus.

# Gay Talese: Der Voyeur (aus dem Amerikanischen von Alexander Weber); 224 Seiten, div. Abb.; Tempo/Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; € 20

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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