CHRIS KRAUS: „DAS KALTE BLUT“


Eine Vita wie die von Konstantin Solm, meist Koja gerufen, muss einfach absurd erscheinen: vom deutsch-baltischen Künstlersohn zum feinsinnigen SS-Obersturmbannführer, zum deformierten Monster, zum Doppelagenten für verschiedene Dienste und bis zum gefälschten Juden mit Sonderauftrag des Mossad.
Doch Autor Chris Kraus versichert glaubhaft, dass nur wenige der geschilderten Ereignisse in seinem opulenten zweiten Roman „Das kalte Blut“ gänzlich erfunden sind. Da wird man immer wieder ins Staunen geraten, denn der auch als Filmregisseur und Drehbuchautor Erfolgreiche erklärt in seiner Vorbemerkung: „Und nur wenige der auftretenden Personen (und schon gar nicht die verrücktesten) haben nie gelebt.“
Es war sein leibhaftiger baltischer Großvater, von dem er erfuhr, dass der SS-Mann war und offenbar ein wild bewegtes Leben hatte. Er nun gibt das Vorbild für die einzigartige Hauptfigur des Koja, 1909 zur Zarenzeit in Lettland geboren. Die Mutter aus baltischem Adel stammend, der Vater Kunstmaler, dazu Bruder Hubertus „Hub“, vier Jahre älter. Er neigt zum Beruf des Geistlichen, während Koja das Talent des Vaters geerbt hat. Nach der Oktoberrevolution werden dann auch die Solms enteignet und müssen sich eher mühsam durchschlagen. In die Familie aufgenommen wird zudem das Mädchen Ev, deren Eltern von den Kommunisten erschossen worden waren. Was erst viel später herauskommt: sie ist die Tochter zum Christentum konvertierter Juden. Für die Brüder aber bekommt die zur Schönheit erblühende Ev eine ihr Leben intensiv mitprägende Rolle.
Eine wichtige Wende in aller Schicksal bahnt sich an, als Hub sich den Nazis anschließt und den eher unentschlossen vor sich hin lebenden Koja dazu überredet, seine Lebenssituation durch den Job eines hauptamtlichen NS-Jugendführers für Kulturfragen zu verbessern. Und vor dem sehr realen historischen Hintergrund – Chris Kraus hat für diesen Roman zehn Jahre intensiv und mit teils unfassbaren Ergebnissen recherchiert – entwickelt sich das Ganze mit den rasanten Zeitläuften zu einem alles mitreißenden Schelmenroman der besonderen Art.
Den erzählt der mit einem Projektil im Kopf im Krankenhaus eingelieferte Koja 1974 einem Mitpatienten, wie er gegensätzlicher kaum sein könnte: einem buddhistischen Friedensgedanken nachhängenden Hippie mit einer schweren Hirnverletzung. Und was er ihm mit drastischer Schonungslosigkeit schildert, ist so verrückt wie die Jahre bis zu dieser Begegnung. Wobei sich Koja mit einem verblüffenden Mangel an Überzeugungen und Skrupeln durch dieses mehr als abenteuerliche 65-jährige Leben hat treiben lassen.
Hub ist der Nazi und SS-Mann, wogegen Koja in erster Linie die Kunst und seine Malerei interessiert. Gleichwohl rutscht er durch seine opportunistische Haltung in kürzester Zeit in die Rolle des willfährigen Mittäters der schlimmsten Barbarei. Doch die moralfreien Grenzüberschreitungen betreffen sein Begehren für Ev genauso, obwohl die dann zunächst Hubs Ehefrau wird. Zu dieser Zeit aber sind die Brüder längst in die Schlächtereien der SS-Sondereinheiten in ihrer alten lettischen Heimat involviert.
Da wechseln kaum zu ertragende Szenen von Judenerschießungen mit abstrusen Begegnungen Kojas mit dem kunstsalbandernden Reichsführer-SS Himmler. Es gibt auch eine russische Geliebte und diese Maja führt später zu Beziehungen Kojas zum KGB und schon hier bahnt sich eine irrsinnige Geheimdienstpersiflage an.
Doch der Autor hat es gesagt und die Figuren sind so bekannt wie die historischen Fakten von Doppelagenten und der Organisation Gehlen – bis zur offiziellen Gründung 1956 quasi ein von den Alliierten finanzierter privater Spionageverein und durchsetzt mit Heerscharen hochrangiger SS-Chargen. Wie eben auch Koja. Immer wieder gibt es hier atemberaubende realsatirische Passagen, sei es mit dem obskuren Gehlen selbst, sei es mit der Operation Thanatos, bei der Koja mitsamt Ev als seiner jüdischen Ehefrau zum Juden umgemodelt in den Mossad eingeschleust wird.
Gräueltaten, Spionage-Wechselbalg, Verrat und Lebenslügen und mittendrin die komplexe Liebesgeschichte zwischen Koja und Ev – dieser Roman ist ein aberwitziges Füllhorn ebenso grotesker wie realitätsnaher Ereignisse im Leben diese ideologiefreien Mitläufers. So schwer das Alles oft zu fassen ist, ist es doch absolut fesselnd und brillant geschrieben.
Wenn dann die Einschübe mit Kojas Gesprächen mit dem Hippie zuweilen zu bremsen scheinen – als Atempausen für den Leser sollte dieser sie willkommen heißen. Fazit: ein grandioses Meisterwerk, allerdings trotz Einschüben von schwarzem Humor so hart, brachial und mit Helden frei von jeglicher moralischen Grundhaltung, dass es sich nicht für zartbesaitete Leser empfiehlt.

# Chris Kraus: Das kalte Blut; 1187 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 32


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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