JOHN WRAY: "DAS GEHEIMNIS DER
VERLORENEN ZEIT"
Ein wahrhaft wunderlicher Roman ist John Wrays vierter Roman
"Das Geheimnis der verlorenen Zeit" geworden. Durch den Irrgarten einer
absonderlichen Familiengeschichte und durch das gesamte letzte Jahrhundert führt der
US-Autor entlang der Frage nach dem Wesen der Zeit. Diese Frage bildet das Band, das die
Geschichte dieser Familie noch einmal zusammenhält.
Nicht von ungefähr beginnt die Geschichte im Jahr 1903 etwas vor der Zeit, als Albert
Einstein seine großen Theorien entwickelte. Im habsburgischen Mähren, in der Stadt
Znojmo, machte der Gurkenfabrikant Ottokar Toula eine bahnbrechende Entdeckung: "Er
ließ sich auf die Bank nieder, achtete sorgsam darauf, nicht umzukippen, und verfasste in
weniger als einer Stunde jenen Eintrag sieben Seiten in schräger, flüssiger
Schreibschrift -, der die nächsten hundert Jahre die Träume seiner Nachfahren heimsuchen
sollte."
Kurz darauf wird Toula von einem Automobil überfahren und stirbt. Vom Manuskript bleiben
die ersten sechs Seiten erhalten. Die siebente Seite mit der Lösung verschwindet. Und
damit geht es seinen Nachkommen darum, die verschwundene Seite zu finden oder die Lösung
des Vorfahren nachzuempfinden.
Toulas Söhne Kaspar und Waldemar bleiben dem Rätsel auf der Spur, studieren beide Physik
und gehen der Frage nach dem Wesen der Zeit auf sehr unterschiedliche Weise nach. Kaspar
heiratet, bekommt drei Kinder und muss sich vor den Nazis in Sicherheit bringen. Er
flüchtet in die USA, wo die Geschichte in der Stadt Buffalo zunächst weiter geht. Hier
wachsen seine beiden Töchter mit Namen Enzian und Gentian und der Sohn Orson auf. Gegen
Ende des Zweiten Weltkrieges erhält er von einem gewissen Dr. Oppenheimer das Angebot, an
einem höchst geheimen Regierungsprojekt mitzuarbeiten, was er aber ablehnt.
Einen ganz anderen Weg geht sein Bruder Waldemar. Der schließt sich den Nazis an, wird
hoher SS-Offizier und schließlich Kommandant eines Konzentrationslagers, wo er mit
Menschenversuchen weiterhin der Frage des Wesens der Zeit nachgeht.
Fiktiver Erzähler all dessen ist der Urenkel Ottokars Toulas, ebenfalls mit Namen
Waldemar. Er lebt in New York im Apartment seiner Tanten Enzian und Gentian wie in einer
Zeitblase von der Außenwelt abgeschlossen. Er schreibt die Geschichte in Form eines
Briefes an eine Hildegard Haven, die er mit Mrs. Haven anredet. Sie könnte eine ehemalige
Geliebte sein, ist jedoch ist die Frau eines Sektengründers, dessen Lehre - Scientology
lässt grüßen - aus den Schriften eines ScienceFiction-Autors abgeleitet ist. Ihr
beschreibt Waldemar junior seine Familiengeschichte über 700 Seiten, gleichgültig, ob
sie es wissen will oder nicht.
Eine skurrile Geschichte, die ein ganzes Jahrhundert Zeitgeschichte widerspiegelt,
gleichzeitig in heftigen Sprüngen von der Familiengeschichte in die Gesprächssituation
mit der Mrs. Haven und vom Schreibstil zwischen Familiensaga und ScienceFiction hin und
her springt.
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