SHAWN VESTAL: „LORETTA“


Loretta ist 15 und lebt in Short Creek, Arizona, in einer streng gläubigen Mormonenfamilie. Das steife langweilige Leben mit nichts als Andacht, Bibelstudium aber ohne Fernsehen ödet sie an. Auch deshalb klettert sie nachts aus dem Fenster und trifft sich mit Brad, der sie zur Flucht bewegen will und hofft, endlich mehr als nur Petting von ihr zu bekommen.
Stattdessen aber wird Loretta am 6. Juli 1974 bei der nächtlichen Heimkehr vom Vater empfangen. Und der greift durch, um ihre Seele zu retten: sie wird umgehend verheiratet! Mit dieser ganz persönlichen Katastrophe beginnt Shawn Vestals sofort fesselnder Roman „Loretta“, der tief in die verwinkelten privaten Verhaltensweisen der Mormonen einführt.
Mit denen sich der Autor bestens auskennt, denn er wuchs selbst in einer solchen Gemeinde auf und man darf autobiografische Elemente in der Geschichte vermuten. Wobei er eine verbotene und juristisch verfolgte Ausformung der Glaubensgemeinschaft in den Mittelpunkt stellt: die „Reorganisierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, die im Rahmen ihrer fundamentalistischen Ausrichtung die Polygamie praktiziert.
So wird Loretta nun mit ihrem Onkel Dean verheiratet. Der ist nicht nur wesentlich älter als sie, der frömmlerische Lebensmittelhändler hat bereits eine Frau und mehrere Kinder. Ehefrau Ruth lässt die jugendliche „Schwesterfrau“ denn auch spüren, dass sie das Regiment hat. Doch sie kann nicht verhindern, dass der ebenso verklemmte wie geile Dean sich nicht lange an die Zusage hält, die Ehe erst mit Lorettas 16. Geburtstag zu vollziehen.
In einem anderen Handlungsstrang wird Jason eingeführt, ebenfalls aus einer orthodoxen Familie, die allerdings nicht die Polygamie praktiziert. Er hat einen liberalen Großvater und durch den kommt eine ungewöhnliche Figur mit ins Spiel: der echte verrückte Motorradstuntman Evel Knievel (1938-2007). Den lernt der Junge sogar persönlich kennen und es gibt später eine wunderbare Passage mit ihm auf Lorettas Flucht.
Bevor die jedoch gelingt, zieht Dean erst einmal mitsamt der gesamten Familie in eine Mormonengemeinschaft in Idaho um. Der bigotte Ehrenmann hatte daheim seiner Kirche einen Teil des Zehnten vorenthalten. Am neuen Wohnort gibt der selbstgerechte Heuchler die von ihm täglich bestiegene Loretta als die Nichte seiner Ehefrau Ruth aus.
Deren grantige Härte hat im Übrigen auch einen tieferen Grund, der in einem Rückblick auf das Jahr 1953 Eingang findet. Damals sprengten Bundesagenten gleich mehrere Polygamistenfamilien und die elfjährige Ruth kam wie all die anderen Kinder in Pflegefamilien. Bis es schließlich Loretta gemeinsam mit Brad, Jason und dessen Freund Boyd schaffen, aus der Knechtschaft zu entfliehen, ist es ihre größte Sorge, eine Schwangerschaft zu verhindern und heimlich an Deans Goldschatz zu gelangen.
Mehr sei von dem wild bewegten und immer wieder auch dramatischen Geschehen nicht verraten, das sich zu einem hinreißenden Roadmovie entwickelt. Shawn Vestal begeistert mit einer großartigen Sprache , mit brillanten Charakterzeichnungen und mit einer oft verblüffenden authentischen Geschichte. Fazit: ein ganz großer literarischer Wurf.

# Shawn Vestal: Loretta (aus dem Amerikanischen von Verena Kilchling); 394 Seiten; Kein & Aber Verlag, Zürich; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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