RICHARD
FLANAGAN: DIE UNBEKANNTE TERRORISTIN
Als Richard Flanagan 2014 den Man-Booker-Preis für seinen großartigen Roman Der
schmale Pfad ins Hinterland erhielt, öffnete das endlich auch bei uns den Weg für
den australischen Erfolgsautor. War das preisgekrönte Werk eine bewegende Geschichte
über das Leiden von kriegsgefangenen Landsleuten unter japanischer Knute, ist der bereits
2006 erschienen Vorgängerroman so aktuell, als wäre er gerade erst verfasst worden.
Die unbekannte Terroristin lautet der Titel und tatsächlich gibt es sie noch
nicht, als die Geschichte an einem Samstag einsetzt. Da steht im Mittelpunkt
Puppe, auch Krystal oder Schwarze Witwe genannt alles Pseudonyme für
die Strip-Tänzerin Gina Davies, offiziell 22 Jahre, in Wirklichkeit 26. Wie aus dieser
sehr attraktiven Frau in weniger als vier Tagen die Staatsfeindin Nummer 1 wird, das
erzählt Flanagan höchst intensiv nach dem Vorbild von Heinrich Bölls Die
verlorene Ehre der Katharina Blum.
Sehr einfache Träume hegt Puppe, die aus einer kaputten Familie stammt, denn sie bunkert
die vielen Dollar, die sie in einem angesagten Rotlicht-Club in Sydney verdient, für eine
eigene Wohnung. Und sie gönnt sich zwischendurch zum Frustabbau Luxusutensilien. Ihr
Erfolg bei den gierigen und gegen Geld auch handgreiflichen Männern beruht auf ihrer
Figur, die weiblicher ist als die der einfach nur schlanken Kolleginnen.
Parallel zu diesem normalen Samstagabend geschieht zweierlei, das mit Puppe eigentlich gar
nichts zu tun hat. Einerseits werden in einem Sportstation drei Rücksäcke mit
Sprengsätzen sichergestellt und die terroristische Bedrohung wird auch in Australien als
real erkannt. Andererseits erlebt der mittelprächtige Fernsehmoderator Richard Cody auf
einem Edelempfang die indirekte Degradierung durch seinen Chef.
Und dann lässt ihn anschließend auch noch die eigenwillige und bewusst rätselhafte
Puppe im Club schnöde mit seinem Avancen abblitzen. Die aber macht sich auf, um ganz
privat zum Mardi Gras zu gehen, einem wilden frivolen Straßenkarneval. Wo sie
ausgerechnet auf den attraktiven, orientalisch aussehenden Mann trifft, der am Nachmittag
den kleinen Sohn ihrer besten Freundin Wilder vorm Ertrinken gerettet hat.
Ohne Hintergedanken geht Puppe mit diesem Tariq in dessen Wohnung und genießt eine
orgiastische Nacht mit viel Koks und hemmungslosem Sex mit ihm. Am Morgen ist er
allerdings mit der Kurznachrticht verschwunden, er sei bald wieder da. Stattdessen aber
bricht eine riesige Polizeiaktion an dem Haus los, die Puppe ahnungslos vom Café
gegenüber bestaunt. Umgehend ist nichts mehr, wie es mal war, denn der mutmaßliche
Kriminelle Tariq wird zum Terroristen hochstilisiert und Gina Davies gleich mit.
Sie nämlich sieht man mit ihm auf den Videoaufnahmen der Überwachungskameras am Haus,
die nun auf allen Fernsehkanälen non-stop gezeigt werden. Doch so wie Tariq im Nu als
potentieller Attentäter gejagt wird, gilt Gina als mindestens ebenso gefährlich. Das
suggeriert vor allem ein wichtigtuerischer Geheimdienstmann mit anonymen Hinweisen
ausgerechnet an TV-Reporter Cody. An dem aber nagt nicht nur die Demütigung durch den
Chef sondern mindestens ebenso sehr die durch Stripperin Krystal, denn natürlich hat er
Puppe sofort erkannt.
Was jetzt von allen Seiten aufschäumt und von Cody skrupellos angeheizt wird, folgt dem
Prinzip, das in unseren Tagen und erst recht unter der neuen US-Regierung nach dem Motto
läuft: Sex sells but paranoia sells better. Und diese ins Blindwütige
gesteigerte Stimmung lässt Gina keinerlei Chance, sich zu stellen und die Dinge
geradezurücken. Stripperin bombt für die Mullahs und dergleichen
Balkenüberschriften machen sie vielmehr regelrecht zum Freiwild.
Mehr sei hier nicht verraten von diesem ebenso rasanten wie komplexen Thriller, der mit
gleißender Konturenschärfe und prägnanter Klarheit den ganzen Wahnsinn von Panikmache
und sogenannten Fake-News offenbart. Richard Flanagan wartet dabei mit exzellenten
Charakterzeichnungen auf und die hervorragende Übertragung ins Deutsche tut das Ihrige,
um diesen brennend aktuellen Roman zu einem grandiosen literarischen Genuss zu machen. Ein
Happyend ist logischerweise nicht zu erwarten, stattdessen macht der Fall mindestens so
wütend wie 1974 der der Katharina Blum.
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