THOMAS KAUFMANN: ERLÖSTE UND
VERDAMMTE
Wittenberg lag fernab jeglicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Zentren und
Martin Luther war ein unbekannter Augustinermönch ebenda. Und dennoch: von diesem
traditionslosen Universitätsstädtchen ausgehend, wurde die Reformation binnen kürzester
Zeit zu einem europäischen Ereignis mit Folgen für die gesamte Welt.
Angesichts des 500-jährigen Jubiläums jenes 31. Oktober 1517 mit dem legendären
Startschuss durch das Anschlagen seiner 95 Thesen an das Tor der Wittenberger
Schlosskirche scheint Luther das Alleinstellungsmerkmal des Reformators zu gebühren.
Diese Darstellung vor allem durch die verklärende und oft deutschtümelnde
Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert prägte das Bild eines Nationalhelden und Genies,
das überhöht ist und zugleich zu kurz tritt.
Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen und einer
der renommiertesten Experten für die Reformation, rückt mit seinem Sachbuch
Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation die Verhältnisse ins
rechte Licht, ohne Luthers tatsächliche Verdienste im mindesten zu schmälern. Und er
stellt gleich eingangs unmissverständlich fest: Die Reformation war von ersten
Anfängen an ein internationales Ereignis.
Kaufmann beschreibt jedoch zunächst die europäische Gesamtsituation, wo reformatorische
Gedanken durchaus bereits existierten. Immerhin hatte sogar das Konstanzer Konzil 100
Jahre vor Luthers Thesenanschlag eine Reform an Haupt und Gliedern beraten.
Doch es war die römisch-katholische Kirche selbst, die eine Verunsicherung im Glauben
verursachte, wo schließlich eine vermeintliche Nebensache wie der Ablasshandel zur
Zündschnur am Pulverfass werden konnte.
Den Reformatoren sei es ums Seelenheil gegangen, stellt der Autor klar, und Luther war
hier nicht der Erste und nicht der Einzige, der mit Kritik am Papst aufbegehrte. Mit
diesem Aufbegehren aber geriet die Wittenberger Bewegung zu einer Revolution
dank ihrer historischen Durchschlagskraft, weil sie auf breiter Ebene auf Gleichgesinnte
traf.
Kaum denkbar sei diese geschwinde, unaufhaltsame Ausbreitung allerdings ohne die
kulturelle Revolution durch die wenige Jahrzehnte zuvor erfolgte Erfindung des Buchdrucks
durch Gutenberg. Luther wiederum war ein begnadeter Kommunikator, der dieses Medium so
genial zu nutzen wusste, dass die publizistische Dynamik bereits in den ersten Jahren
höchst effektiv dafür sorgte, dass das neue Gedankengut jegliche weltliche Grenzen
überschritt und auch durch Ketzerbekämpfung nicht mehr aufzuhalten war.
Die Reformation machte eine Siegeszug um die Welt und ihre politischen, religiösen,
sozialen und kulturellen Auswirkungen erstrecken sich bis in die Gegenwart. Der
evangelische Kirchenhistoriker lässt dabei keinen Zweifel daran, dass sie keine
ureigenste deutsche Erfindung war, wenngleich Martin Luther unbestritten ihr
entscheidender Held war.
Fazit: diese umfassende und bei aller Wissenschaftlichkeit unterhaltsam zu lesende
Darstellung der Reformation auf dem neuesten Forschungsstand darf mit Fug und Recht als
Standardwerk zum Thema bezeichnet werden. Wer sich im 500. Jubiläumsjahr des
welthistorischen Ereignisses rundum und ohne verengende Heldenverehrung informieren will,
kommt an diesem Buch nicht vorbei.
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