REIF LARSEN: „DIE RETTUNG DES HORIZONTS“


Am 17. April 1975 gibt es in Elizabeth, New Jersey, einen solch extremen Stromausfall, dass ihm Krankenhaus die Hilfsaggregate erst verspätet anspringen. In die völlige Dunkelheit hinein wird Radar Radmanovic geboren. Als das Licht wieder anspringt der Schock: das Baby hat schwarze Haut, obwohl beide Eltern Weiße sind.
Damit beginnt Reif Larsens Roman unter dem Titel „Die Rettung des Horizonts“. Es sei gleich vorweg gesagt: der ist mindestens so ungewöhnlich wie sein Debüt „Die Karte meiner Träume“, das zum Weltbestseller wurde. Erstmal aber dreht sich hier alles um Radar, mit dem die tief getroffene Mutter Charlene einen Ärztemarathon wegen der „chronischen Hyperpigmentierung“ unternimmt. Vater Kermin, einst eingewanderter Serbe aus Kroatien, nimmt das Ergebnis dagegen als gottgegeben hin.
Entsprechend ablehnend reagiert er, als einige Wochen später ein merkwürdiger Brief aus Oslo kommt. Da gebe es in Nord-Norwegen die Kirkenesferda, eine Gemeinschaft von Physikern und Künstlern, die eine tiefgreifende Wandlung der Hautfarbe per Elektrobehandlung in Aussicht stellt. Kermin ist zwar gegen die „Quacksalbermethodik“, dennoch sorgt nicht zuletzt seine offenbar geerbte Leidenschaft für alles Elektrische dafür, dass die Familie die Gratis-Einladung annimmt.
Die Szenen dort nördlich des Polarkreises erhöhen die längst eingetretene Sogwirkung des Erzählstroms, obwohl aber auch weil sie teils geradezu bizarr sind. Von hier an bis zum Schluss wird dann immer wieder mit Sätzen, Fußnoten und Zeichnungen aus dem ominösen – und frei erfundenen – Wissenschaftswälzer „Spesielle Partikler“ zitiert. Das Erstaunliche aber: Radars Haut schält sich tatsächlich ab, bis er ein Weißer geworden ist.
Doch der Preis ist hoch, denn zu Haarausfall und extremer Sensibilität für Elektrizität kommen epileptische Anfälle. Zwischendurch hat man zudem erfahren, dass die von Kirkenesferda zwar auch Experten bis hin zur Quantenphysik sind, in erster Linie jedoch Puppenspieler, die geniale Marionettenroboter bauen bis hin zu ganzen Vogelschwärmen. Aber nicht nur sie können das, denn nun springt das Geschehen erneut ins Jahr 1975 und jetzt nach Bosnien.
Dort verschluckt der dreijährige Miroslav Danilovic einen Schlüssel und scheidet diesen nicht wieder aus. Das hemmt zwar seine physische Entwicklung, geistig jedoch ist er begnadet und tüftelt unglaubliche Puppenroboter aus, denen der Kirkenesferda wohl ebenbürtig. Im Sommer 1991 geht er zum Studium nach Belgrad. Dann aber bricht der jugoslawische Bürgerkrieg aus und während Miros Bruder sich den grausamen Tschetniks anschließt, kommen die Gräuel auch über diese Familie.
Hier gehen viele authentische Passagen tief unter die Haut, nachdem schon bis hierhin gerade auch die familiären Beziehungen und Konflikte sämtlicher Protagonisten gefesselt haben. Das gilt dann ebenso beim nächsten Szenenwechsel nach Kambodscha um 1953 noch unter französischer Herrschaft. Atmosphärisch noch dichter geht es hier in eine Kolonialistenfamilie, die einen einheimischen Waisenjungen adoptiert, der sich zum ersten Quantenphysiker des Landes entwickelt.
Nach einem zweiten Blackout – diesmal durch einen EMP, den Radars Vater mit einem selbstgebauten Gerät ausgelöst hat und der zum Ausnahmezustand in ganz New Jersey führt – bringt der Autor die scheinbar so unterschiedlichen Geschichten zu einer virtuosen Verknüpfung von Wissenschaft und Verrücktheit zusammen und die stets mitwirkenden Puppenspieler von Kirkenesferda treiben das Alles zu einem absurden Höhepunkt im fernen Kongo.
Dieses etwas kompakte Finale ist auch der einzige Aspekt, den man sich etwas ausführlicher gewünscht hätte. Ansonsten aber hat US-Autor Reif Larsen hier eine verwegen grandiose Melange komponiert, die dank der geradezu überbordend einzigartigen Charaktere zu einem anspruchsvollen Meisterwerk geworden ist.

# Reif Larsen: Die Rettung des Horizonts (aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch); 768 Seiten, div. Abb.; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 26

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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