NOAH HAWLEY: „VOR DEM FALL“

 
Scott Burroughs hat als Maler eine Lebenskrise überwunden und gegen Alkohol und Übergewicht das tägliche Schwimmtraining aus Jugendtagen wieder aufgenommen. Und jetzt erwartet den 45-Jährigen nicht nur ein vielversprechender Termin mit einer Galeristin in New York, er hat bei einem Abstecher auf die Reicheninsel Martha's Vineyard auch noch das Interesse einer Millionärsgattin mit seinen Werken geweckt, die ihn zum Mitflug im Privatjet einlädt.
Womit er ein Zufallsgast an Bord der luxuriösen Maschine ist, die nie ihr Ziel erreichen wird. Bevor es jedoch zu diesem Unglück kommt, stellt Erfolgsautor Noah Hawley im Stil der Katastrophenfilme der 70er Jahre an den Anfang seines neuen Romans „Vor dem Fall“ das Kennenlernen der Protagonisten. Da ist David Bateman, millionenschwerer Medienmogul, mit Ehefrau Maggie und den Kindern Rachel, 9 Jahre, und dem vierjährigen JJ. Die Batemans haben den bewaffneten Leibwächter Gil dabei, aus gutem Grund, wie man später erfährt.
Als nächstes steigen Ben und Sarah Kipling ein, Ben ist einer der erfolgreichsten Geld-Haie an der Wall Street. Zur Crew gehören neben den beiden Piloten noch die attraktive Stewardess Emma und dann trifft beinahe zu spät Extragast Scott ein. Das Flugzeug startet problemlos in die Nacht. Bis es nach nur 18 Minuten ohne jedes Notsignal von den Radarschirmen verschwindet.
Inmitten brennender Trümmer kommt Scott im kalten Atlantikwasser zu sich, allein auf weiter Flur. Bis er den weinenden JJ entdeckt. Mit dem Kleinen auf dem Rücken gelingt ihm in übermenschlicher Anstrengung die Rettung ans Land. Natürlich ist er damit erst mal der gefeierte Held, allerdings entflieht er dem Rummel schon bald. Doch in diesen Zeiten der Medienhysterie wird solch ein Ereignis gnadenlos ausgeschlachtet.
Scott und JJ die einzigen Überlebenden und dazu zwei derartige Leitfiguren an Bord: Bateman u.a. mächtig durch seinen Fernsehsender und Kipling als umstrittener Millionenmann. Während Polizei, Flugsicherheitsbehörde und FBI fieberhaft nach den Ursachen des Unglücks suchen – wenn es denn eines war – läuft Bill Cunningham zur Hochform auf. Bateman hatte ohnehin schon Ärger mit seinem erfolgreichsten Anchorman bei ALC-News, nun sieht der seine Chance, Profit aus dieser Tragödie zu schlagen, koste es, was es wolle.
Ist der Roman auch dank der brillanten aber zuweilen sehr detaillierten Figurenbeschreibungen eher langsam gestartet, entwickelt er nun schon wegen der exzellenten Dramaturgie eine ungemein fesselnde Sogwirkung. Während sich der Flugsicherheitsbeamte Franklin in die Fakten verbeißt und wegen der fehlenden Blackbox nicht voran kommt, wirbelt Cunningham ohne jede Skrupel.
Da verdichten sich die Anzeichen auf einen Anschlag, andererseits werden dunkle Geheimnisse bei den Passagieren offensichtlich und das Blatt wendet sich dramatisch gegen Scott. Wieso überlebten nur er und der nun schwerreiche Erbe JJ? Und was ist dran an Vermutungen, dass seine Verbindung zu Maggie Bateman weitaus enger war als bisher zugegeben? Cunningham überschreitet alle Grenzen von Anstand und journalistischer Objektivität und schreckt auch vor illegalen Mitteln nicht zurück.
Machenschaften und öffentliche Verdächtigungen drohen Scott zur Strecke zu bringen. Doch – welche Geheimnisse birgt auch er, was verbergen seine Gedächtnislücken und was könnte die Blackbox offenbaren? Es sei an dieser Stelle nur noch verraten, dass dieser vielschichtige Hochspannungsroman seine vielen Handlungsstränge zum Finale souverän zu einem starken Ende zusammenführt.
Dieses Meisterwerk eines lebensnahen Thrillers ist mit diesem authentischen Szenario von Unglück und was die Sensationsgier der Öffentlichkeit daraus macht, zugleich ein großartig gelungener Gesellschaftsroman. Dem man im Übrigen deutlich anmerkt, dass der Autor auch ein versierter Drehbuchautor ist, und so muss man eine Verfilmung nicht noch extra empfehlen.

# Noah Hawley: Vor dem Fall (aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt); 447 Seiten; Goldmann Verlag, München; € 22,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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