ARNOLD STADLER: „RAUSCHZEIT“


„Was ist Glück? Nachher weiß man es.“ So lautet die Eröffnung und die bestechende Logik des neuen Romans von Büchner-Preisträger Arnold Stadler. Irene, allgemein Mausi genannt, und Alain sind in diesem Stadium. Beide 40, seit 15 Jahren verheiratet, wohnen sie in zwei durch eine Innentür verbundene Wohnungen.
Sie haben sich gewissermaßen freundlich auseinandergelebt seit jenen rauschhaften Zeiten Anfang der 80er Jahre. Weshalb der Titel dieses Romans auch „Rauschzeit“ heißt. Dieser Begriff aus der Jägersprache meint die Phase, in der bei den Wildschweinen die Bachen für das Ausbrechen der sexuellen Hitze sorgen. Quasi sinnbildlich wirkt in die unruhigen Erinnerungswellen von Mausi und Alain die Nachricht von Elida Elfie Rauschzeits Selbstmord hinein.
Die ebenfalls 40-Jährige hieß wirklich so, war damals Teil der Freiburger Studenten-WG und die Unersättlichste von allen. An diesen Juni-Tagen im Jahr 2004 aber gehen die Erinnerungen von Mausi und Alain ohnehin zurück in jene Zeit und insbesondere zu dem turbulenten Sommer an der französischen Atlantikküste. Dorther stammte nicht nur Alain sondern auch Babette, die er seit Schülerzeiten liebte. Und dann zerbrach dieses Glück, als Babette über Nacht mit Mausis Freund Toby verschwand.
Doch diese Tage nun im Juni 2004, da Alain zu einem Übersetzerkongress in Köln weilt und Mausi sich auf ihrer Balkonlandschaft in Berlin aalt, bekommen bei aller Melancholie – die bei ihm ungleich intensiver ausgeprägt ist als bei ihr – etwas Elektrisierendes. Während Ich-Erzähler Alain nämlich per Zufall Babette begegnet und sie sich verabreden, wartet auf Mausi eine Begegnung mit einem blonden Dänen.
Mausi kennt diesen Jesper noch nicht, doch Freunde von einst haben sie zu „Tosca“ eingeladen und der Däne soll sie als Ersatzmann für Alain in die Oper begleiten. Doch Arnold Stadler gestaltet das sich abzeichnende Liebesspiel perfide langsam, einem endlosen Vorspiel des Sinnierens und Zurückschauens gleich. Ob die Rauschzeit von 1983, ob die Liebeswirren im Freundeskreis aus WG-Tagen – wer sich auf diesen breiten Erinnerungsfluss mit der nötigen Geduld einlässt, wird als Genießer belohnt.
Ob Sinnforschung oder Reflexion, das mäandert mit einem unterschwelligen sexuellen Knistern und subtilem Humor dahin und funkelt zugleich mit hinreißenden Sätzen. Langsam ist sie, diese „Geschichte von zwei Liebenden, deren große Zeit vorbei war“, doch sie lebt nicht von der überschaubaren Handlung sondern von ihrem reichen Innenleben. Fazit: ein literarisches Meisterwerk vor allem für Sprachästheten.

# Arnold Stadler: Rauschzeit; 548 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 26

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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