JO McMILLAN: „PARADISE OST“


Besonders viele Freunde haben sie nicht, Eleanor Mitchell und ihre 13-jährige Tochter Jess. Das hat sicher damit zu tun, dass Eleanor die einzige Kommunis-tin im kleinen etwas verschlafenen englischen Städtchen Tamworth ist und dort unverdrossen zusammen mit ihrer Tochter Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhun-derts für den Sieg des Sozialismus kämpft.
Was im Wesentlichen darin besteht, dass sie regelmäßig vor dem örtlichen Supermarkt die Zeitung „Morning Star“ verkaufen. Geradezu symbolisch ist die Reaktion des Fleischers, im Supermarkt, der sie nicht nur mit bösen Blicken bedenkt, sondern auch schon mal mit blutigem Fleischermesser in der Hand herauskommt und versucht, sie zu vertreiben.
Doch Mutter und Tochter haben sich eigentlich ganz gut eingerichtet in ihrem kleinen Leben in der kleinen Stadt. Die Mutter arbeitet als Englischlehrerin und die Tochter besucht fleißig die Versammlungen der Partei in der Nachbarstadt. Der Vater der kleinen Familie ist vor Jahren verstorben.
Das alles ändert sich, als Eleanor das Angebot erhält, für einen Sommerkurs für Englischlehrer in die DDR zu gehen. Wo sie sich offenbar das „Paradise Ost“ vorstel-len und so lautet denn auch der Titel von Jo McMillans Debütroman. Für Mutter und Tochter ist „ein Sommer im Sozialismus“ nicht nur eine Erlösung aus dem ignoranten kleinen Tamworth, sondern auch die Erfüllung eines Traums. Das bleibt auch zunächst so. Sie lernen auf Ausflügen nach Zwickau, in den Spreewald und nach Ost-Berlin die DDR kennen, erleben aber auch die alltägli-che Mangelwirtschaft, die fehlende Reisefreiheit und das von oben verordnete Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Eleanor verliebt sich neu in den Hochschullehrer Peter und auch Jess beginnt eine Freundschaft mit dessen Tochter Martina. Wie das System der DDR arbeitet, zeigt sich dann anhand dieser Beziehungen. Da offensichtlich eine zu enge Verbindung zu der westlichen Ausländerin nicht erwünscht war, wird Peter kurzerhand nach Laos geschickt und damit die Beziehung zu Eleanor unterbun-den. Erst Jahre später kehrt er schwer krank aus der laotischen Hauptstadt Vientiane zurück. Auch Jess trifft Martina bei den weiteren Sommeraufenthalten in den folgenden Jahren nicht wieder an.
Während Eleanor ihre Liebe nicht aufgibt, ganz in die DDR übersiedelt und sich an die Verhältnisse anpasst, geht Jess mehr und mehr auf Distanz zum System des real existierenden Sozialismus. Damit kann der Roman auch als die Entwicklung einer Mutter–Tochter-Beziehung gelesen werden.
Mit diesem Roman verarbeitet Jo McMillan zum Teil eigene Erlebnisse aus ihrer Jugend, schildert aus der Perspektive der westlichen Ausländer, wie sie das System der DDR erlebt hat, in dem Entscheidungen über ganze Lebensläufe und Schicksale über die Köpfe der Menschen hinweg von anonymen Instanzen getroffen wurden und auch durchgesetzt wurden.

# Jo McMillan: Paradise Ost (aus dem Englischen von Susanne Höbel); 249 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 20

ATTO IDE

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