J. PAUL HENDERSON: „LETZTER BUS NACH COFFEEVILLE“


J. Paul Henderson ist als Schriftsteller ein Spätstarter, denn der Brite schrieb seinen Debütroman „Letzter Bus nach Coffeeville“ erst mit 67 Jahren. Auslöser war für den promovierten Amerikanisten, der einen großen Teil seines Berufslebens in den USA verbrachte, der Tod seiner Mutter, die an der Alzheimer-Krankheit litt.
Dieses ernste Thema machte er zum roten Faden für einen wunderbar erzählten Roman. Der fesselt unverzüglich dank einer geschickten Mischung aus Tiefgründigkeit, unterschwelligem Humor mit Slapstick-Einlagen sowie hinreißenden Charakteren. Eingangs wird Eugene „Doc“ Chaney III. an seinem 72. Geburtstag vorgestellt. Seine Arztpraxis hat er vor sieben Jahren geschlossen und trotz allseitiger Beliebtheit in seiner Kleinstadt in Maryland war er nie gesellig.
Er zieht die Einsamkeit der Gesellschaft anderer Menschen vor, seit ihn in jungen Jahren eine Reihe von Schicksalsschlägen innerhalb ungesund kurzer Zeit traf. Das kurze innige Glück mit Ehefrau Beth und dem Baby endete abrupt durch einen plötzlichen Unfall, wie er skurriler und sinnloser kaum denkbar ist. Als er danach zu den Eltern zog und die Praxis des Vaters übernahm, starben beide innerhalb kurzer Zeit. Stoisch blickt er nun am Geburtstag zurück: „Das Sterben zog sich über die nächsten 40 Jahre hin.“
Doch ausgerechnet jetzt meldet sich seine Jugendliebe aus Studententagen, Nancy Travis. Sie war Docs erste große Liebe und ganz vergessen hatte er sie nie, nachdem sie damals so spontan aus seinem Leben verschwunden war. Vorher hatte sie ihm ein Versprechen der besonderen Art abgenommen: falls auch bei ihr wie bereits bei anderen Familienangehörigen im Alter die heimtückische Krankheit des Vergessens aufträte, solle er ihr Sterbehilfe leisten.
Nun ist Nancy 68 und die Symptome der Alzheimer-Krankheit sind da. Und sie schreiten voran. Doch sie will in Würde sterben und es soll in Coffeeville, Mississippi, geschehen, wo sie eine schöne Kindheit verbrachte. Doc ist bereit, sein Versprechen einzulösen, allerdings kann er sie nicht einfach aus dem Heim abholen und fortschaffen. Hier nun kommt Bob ins Spiel, in jenen Aufbruchjahren Anfang der 60er der Dritte im Bunde.
Rebellisch waren sie, aufmüpfig und allein schon wegen Bobs dunkler Hautfarbe rührig in der Bürgerechtsbewegung. Ausgerechnet er landete schließlich bei der CIA, ist aber gerade wegen manch einschlägiger Fähigkeiten genau der Richtige in dieser Situation. Denn es gilt, Nancy aus dem Heim zu entführen. Da hilft dann auch noch Docs inzwischen erwachsener Patenjunge Jack mit. Der hat ähnlich wenig zu verlieren wie die Drei, denn er hat soeben seiner ungetreuen Ehefrau und dem garstigen untergeschobenen Kind den Laufpass gegeben und obendrein den Job als Fernseh-Wettermann geschmissen.
Als Geführt für die 1000-Meilen-Reise von Hershey, Pennsylvania, nach Coffeeville, Mississippi, klauen sie sich ausgerechnet einen alten Tourbus der Beatles. Und als nun als fünfter Passagier auch noch der ausgebüxte Waisenjungen Eric, ganze 13 Jahre alt, zu ihnen stößt, der nach einer strippenden Cousine als einziger verbliebener Verwandter sucht, gibt es gleich mehrere Gründe, warum die bunte Reisegruppe von der Polizei gesucht wird. Entsprechend verrückt wird dieser Roadtrip, bei dem dieses seltsame Quintett zu einer herzhaft verschworenen Gemeinschaft zusammenwächst.
Natürlich erfährt man vieles vor allem aus den jungen Jahren der ehemaligen Studienfreunde, was die Umbruchzeit aber auch das Vietnam-Desaster thematisiert. Hinzu kommen zahlreiche weitere Protagonisten bis hin zu fiktiven Kurzauftritten von Fidel Castro und Che Guevara und durchweg gibt ihnen der lebenserfahrene Autor starke Konturen. Jeder hat hier sein Schicksal gehabt, das Spuren hinterlassen hat, dennoch kommt der Roman ohne Rührseligkeit oder Pathos aus.
Dennoch aber berührt er sehr, wobei insbesondere das stille eigenwillige Finale der Reise einen brillanten Endpunkt setzt. Fazit: eine außergewöhnliche, großartige Tragikomödie, die dem Grundthema absolut gerecht wird und lange nachhallt. Und die im Übrigen unbedingt verfilmt werden sollte.

# J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville (aus dem Englischen von Jenny Merling); 520 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 24


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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