SZCZEPAN TWARDOCH: „DRACH“


Nach seinem gefeierten brachialen Debütroman „Morphin“ legt der junge polnische Autor Szczepan Twardoch nun eine noch größere Herausforderung vor, an sich persönlich und an den Leser.
„Drach“ heißt der Titel und dieser Drache ist kein Geringerer als die Erde selbst, die hier eine gewaltige Generationsgeschichte ausbreitet. Schauplatz ist Twardochs schlesische Heimat, mal preußisch, mal deutsch, mal von den Sowjets besetzt und dann Polen zugeeignet. Und die Erde hat ihre eigene Erzählweise, nicht chronologisch sondern in parallelen Ebenen, aus verschiedenen Generationen quasi nebeneinander.
Das bedarf einer Phase des Einlesens in diesen virtuosen Rhythmus des Autors, doch es sei versichert: die Mühe lohnt nicht nur, die Faszination dieser besonderen Form der Prosa erliegt man schon bald so sehr, dass man sie nicht mehr missen möchte. Ebenso wenig wie die höchst authentischen sprachlichen Einschübe in echtem „Schläsch“, für die Übersetzer Olaf Kühl den originalen oberschlesischen Dialekt ins Niederschlesische übertragen hat, weil es dem Deutschen näher kommt.
Die komplexe Geschichte schildert die Schicksale von Menschen aus dem Städtchen Pilchowice, das von 1936 bis 1945 in Bilchengrund umgedeutscht wurde. Am Anfang steht Josef Magnor, 1898 geboren, der mit acht Jahren gewissermaßen symbolhaft Augenzeuge einer nicht ganz glatt gegangenen Schweineschlachtung wird, dann als Tischler im örtlichen Kohlenbergwerk arbeitet und in deutscher Uniform das Grauen des Stellungskrieges im Ersten Weltkrieg mühsam überlebt.
Das multinationale Oberschlesien wird immer wieder durch die Zeitläufte aufgewühlt, doch auch der private Josef ist ein einem fatalistischen Kreislauf des Unglücks gefangen. Ohne Liebe verheiratet, beginnt der Familienvater eine Affäre mit dem minderjährigen Früchtchen Caroline. Und bringt sie und einen Nebenbuhler aus Eifersucht um. Woraufhin er sich an die 20 Jahre lang unter Tage versteckt.
Derweil seine Söhne in der Wehrmacht kämpfen, um doch in nationalpolnische Familien einzuheiraten. Als Josef Magnor wieder zu Tage tritt dank eines Freundes, der später im KZ endet, tobt bereits der Zweite Weltkrieg. Und Josef, der sich weder deutsch noch polnisch fühlt, kommt elendig um. Bei all dem ist er aber nur ein Hauptprotagonist und der Kreis vollendet sich schließlich 2014 mit seinem Urenkel Nikodem Gemander, der es bis zum preisgekrönten Architekten gebracht hat und doch der Schattenlinie der Familie nicht zu entkommen vermag. Auch er verlässt Frau und Kind zugunsten einer Jüngeren und scheitert ähnlich fatal.
Drach, die Erde als Chronistin, nennt all die Namen, Wünsche und Befindlichkeiten der Einzelnen bedeutungslos. Sie erzählt schnörkellos präzise und stets mit sachlicher Kühle. Gerade darin aber liegt auch die Meisterschaft dieses außergewöhnlichen Romans, der nicht nur eine Geschichte dieser Menschen und Schlesiens sondern auch Polens über die Generationen hinweg ist. Fazit: ein Stück großer Literatur, anspruchsvoll, düster und lange nachhallend.

# Szczepan Twardoch: Drach (aus dem Polnischen von Olaf Kühl); 413 Seiten; Rowohlt Verlag, Berlin; € 22,95

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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