JOEL DICKER: „DIE GESCHICHTE DER BALTIMORES“


Vor drei Jahren gelang dem jungen Schweizer Schriftsteller Joel Dicker mit dem großen Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ ein fulminanter Welterfolg. Im Zentrum stand in dem ebenso komplexen wie fesselnden Kriminalfall als Ich-Erzähler der junge Erfolgsautor Marcus Goldman.
Der hatte seinen Mentor Quebert aus den Mordverstrickungen um dessen minderjährige Geliebte Nola befreit und daraus einen eigenen Bucherfolg gemacht. Von den Einnahmen kaufte er sich ein Haus in Florida, um endlich sein nächstes Buch angehen zu können. Inzwischen schreibt man das Jahr 2012 und Goldman hat ein Problem: ihm fehlt eine zündende Idee. Bis ihm der Auslöser in Gestalt des ausgerissenen Hundes Duke quasi vor die Füße läuft.
Duke gehört zufällig Alexandra Neville, die vor Jahren eine ganz zentrale Rolle nicht nur in seinem Leben spielte. Und nun auch in dem von Beginn an mitreißenden Familienepos „Die Geschichte der Baltimores“, dem neuen Werk Joel Dickers. Alexandra, inzwischen als Sängerin und Songschreiberin zu einem Superstar aufgestiegen, erinnert Marcus schmerzlich an wunderbare Jugendjahre, als es noch die beiden Goldman-Familien gab.
Seine eigene, das waren die Montclairs, so nach ihrem Wohnort in New Jersey benannt. Bescheidener und ziemlich langweiliger Mittelstand. Im Gegensatz zur Familie seines Onkels Saul Goldman, einem renommierten Anwalt in der Großstadt Baltimore, verheiratet mit der großartigen Tante Anita. Wohlhabende Großbürger mit entsprechendem Wohnsitz. Dass Marcus dort die schönsten Sommer seines Lebens verbrachte, lag jedoch nicht nur an diesen Beiden sondern insbesondere an seinen gleichaltrigen Cousins.
Da war der schmächtige aber gewiefte und hochbegabte Hillel und dessen Adoptivbruder Woody, ein gut aussehendes Sport-As. Bei aller Bewunderung für das so perfekt wirkende Leben der Baltimore-Goodmans schimmerte freilich zugleich ein wenig Eifersucht und Neid durch. Dennoch sind die drei Cousins ein Herz und eine Seele und gehen gemeinsam durch Dick und Dünn. Eine herrliche Jungensidylle, die erst massiv belastet wird, als sich alle drei mit 15 in das zwei Jahre ältere Nachbarmädchen Alexandra verlieben.
Doch die Jungs versprechen sich hoch und heilig Abstinenz. Bis Marcus den Schwur bricht und Alexandra seine Freundin wird. Mit unabsehbaren Folgen, die den Keim zu einer Katastrophe legen, an der die gesamte Familie der Baltimores zugrunde gehen soll. All dies aber wie auch die Selbsttäuschungen seither und die schönen Bilder, die sich Marcus in all den Jahren seither vorgegaukelt oder einfach nur verdrängt hat – das tritt nun durch die Begegnung mit Alexandra nach so langer Zeit schmerzlich wieder in sein Bewusstsein.
Und es kann nur eine Rettung geben: er muss sich den Tatsachen stellen, dem, was damals wirklich geschehen ist. Zugleich wird das, was er nun in vielen Rückblicken auf verschiedenen Ebenen erzählt, sein neuer Roman. Eine komplexe Geschichte, verwoben mit vielen raffinierten Wendungen und überraschenden Erkenntnissen.
Erneut fasziniert Joel Dicker dabei mit einem einzigartigen Tableau starker Charaktere, wobei er die bereits im Prolog angedeutete Katastrophe der Familie zum Dreh- und Angelpunt macht und sie doch bis weit zum Finale hin hinausschiebt. Der Leser wird mit virtuoser Dramaturgie gefesselt, die um so mehr beeindruckt, als sie mit einer überwältigen Souveränität der Prosa einhergeht. Fazit: ein Meisterwerk der Erzählkunst und ein würdiger Nachfolger für den genialen Debütroman.

# Joel Dicker: Die Geschichte der Baltimores (aus dem Französischen von Brigitte Große und Andrea Alvermann); 511 Seiten; Piper Verlag, München; € 24


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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