WOLFRAM SIEMANN: „METTERNICH“


Klemens Fürst von Metternich (1773-1859) gilt seit Generationen als gewiefter Diplomat, vor allem aber als rücksichtsloser Reaktionär, der über Jahrzehnte alle liberalen und nationalen Kräfte unterdrückte. Doch – inwieweit stimmt dieses Bild überhaupt?
Gut 90 Jahre nach der letzten großen Biografie über den legendären Staatsmann durch Heinrich von Srbiks legte jetzt Wolfram Siemann, Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, unter dem Titel „Metternich. Stratege und Visionär“ ein Werk vor, das das eingemeißelte Bild ebenso brillant wie gründlich revidiert.
Wo von Srbiks sogar nachweisbar Fakten „interpretierte“ und es wiederholt an wissenschaftlicher Objektivität mangeln ließ, setzt Siemann gleich in zweierlei Hinsicht Maßstäbe für eine unumgängliche Neubewertung. Zum Einen hat er sich in dreijähriger Fleißarbeit nicht nur mit sämtlichen allgemein bekannten Quellen befasst, er hat auch den ungeheuer umfangreichen Nachlass Metternichs im Nationalarchiv Prag intensiv studiert.
Dazu muss man wissen, dass Metternich um die Missdeutung seines Wirkens wusste und selbst viele zeitnahe Aufzeichnungen seines Schaffens und Erlebens niederschrieb. Hinzu kommt die ebenfalls kaum überschaubare Fülle vor allem privater und sehr aufschlussreicher Briefe. Ein zweiter wesentlicher Unterschied zu seinen Vorgängern ergibt sich bei Siemanns Arbeit durch den anderen Ansatz, nämlich Metternichs Handeln aus dessen Gegenwart und Denken heraus zu deuten.
Beides zusammen, die präzise Quellenauswertung und der unmittelbare Blickwinkel ergeben zwingend ein anderes Bild des viel Geschmähten als großer europäischer Staatsmann, der den Krieg zutiefst verabscheute und die Frauen liebte. Aufgewachsen noch in der Ära des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, das Napoleon 1806 zur Liquidation brachte, erlebte der im deutschen Koblenz geborene Adelige erst mit Abscheu die Anarchie des revolutionären Pöbels und zunehmend die generelle Gefahr von Volksbewegungen und Folgekriegen wie bei der Französischen Revolution.
Bald schon zum Diplomaten in österreichischen Diensten avanciert, brach endgültig eine Art Weltkrieg aus, als sich Napoleon zum Herrscher und Eroberer aufschwang. So sehr sich diese beiden Genies anfangs bewunderten, so krass war doch der Unterschied zwischen Metternich, der den Frieden liebte, und dem Kriegsherren, der dem österreichischen Außenminister und politischen Gegenspieler nach der verlorenen Völkerschlacht von Leipzig 1813 den entlarvenden Satz entgegenhält: „Ich scheiße auf das Leben von einer Million Menschen“.
Es sollten insgesamt bis zu drei Millionen werden, die durch Napoleons Hybris starben, doch es war Metternich als gewiefter Zeremonienmeister des Wiener Kongress, der 1815 eine visionäre neue europäische Friedensordnung schuf, die tatsächlich über Jahrzehnte für Frieden sorgte. Zugleich aber entstand das „System Metternich“ mit einer Restauration der alten Kräfte, denn der Ausnahmepolitiker mit den vielen einschlägigen Erfahrungen sah die Gefahren, die nationale Selbstbestimmungsbestrebungen wie auch Befreiungsideologien und Liberalismus innerhalb der Staaten mit sich bringen würden.
Außenpolitisch setzte er dem unter anderem die „Heilige Allianz“ entgegen, als langjähriger mächtiger Staatskanzler des Habsburger Reiches aber setzte er innenpolitisch auf Zensur, Geheimpolizei und politische Restriktion. Metternich wusste um den großen Hass auf ihn, er wusste, wie sehr er missverstanden wurde. So erlebte er die Tragik, dass ihn trotz allem die revolutionären Aufwallungen von 1848 aus dem Amt beförderten. Und er wusste zum Lebensende, dass sein striktes aber auch friedensstiftendes System untergehen und der Frieden verloren gehen würde.
Doch Biograf Siemann bezieht auch das fast ebenso interessante und bewegte Privatlebens des umtriebigen Vollblutpolitikers mit ein. Der auch etliche schwere Schicksalsschläge erlitt, so verstarben die drei Ehefrauen und die meisten der insgesamt zwölf ehelichen Kinder. Hinzu kamen andererseits jedoch viele Affären, die dokumentiert sind, wovon zwei von größerer Bedeutung sind, zumal Metternich sich mit diesen Adelsfrauen auch politisch austauschte.
Auch diese Aspekte tragen mit bei zu den vielen Revisionen über das bisher gezeichnete Bild dieses Mannes. Er war nicht nur so genial, wie selbst seine Gegner zugeben, er war moderner, weitsichtiger und in seinem Wirken weitaus zukunftsweisender, als ihm die bisherige Geschichtsschreibung zugestehen wollte. Womit Wolfram Siemann zugleich einen neuen Blick auf die Geschichte des gesamten 19. Jahrhunderts eröffnet.
Fazit: eine fesselnde großartige Biografie zu einer der wichtigsten historischen Persönlichkeiten der Neuzeit und mit allen Qualitäten eines Standardwerkes.

# Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie; 983 Seiten, div. Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 29,95

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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