FRANCINE PROSE: DIE LIEBENDEN
IM CHAMLÄLEON CLUB
Ein Porträtfoto von zwei Frauen an einem Tisch in einer Bar im Paris des Jahres 1932, die
eine im schimmernden Abendkleid, die andere mit kurzem Haar und im Smoking als kesser
Vater gekleidet, und der Begleittext darunter das war der Auslöser für Francine
Proses Buch über Violette Morris (1893-1944).
Je mehr sie bei ihren Recherchen herausfand, desto sinnvoller erschien der amerikanischen
Erfolgsautorin, statt einer Biographie einen Roman vor realem Hintergrund mit sehr
authentischen Protagonisten zu schreiben. Mit dieser ungleich größeren
Gestaltungsfreiheit entstand nun Die Liebenden im Chamäleon Club. Im
Gegensatz zu dem harmonisch klingenden Titel ist das allerdings die flirrende Geschichte
der sich von der unbedarften Klosterschülerin über die Spitzensportlerin und
Cabaret-Tänzerin bis zur Nazi-Kollaborateurin wandelnden Lou Villars, so ihr Name als
Romanfigur.
Nach einem Vorfall mit ihrem behinderten Bruder kommt Lou in ein katholisches
Klosterinternat, wo eine freundliche Nonne sie folgenreich zum sportlichen Training
anregt. Lou erbringt schon bald erstaunliche Leistungen zum Beispiel im Gewichtheben und
Diskuswerfen und beginnt auch mit dem Boxen. Wobei sie später sogar selbst in Kämpfen
gegen Männer besteht.
Doch sie gerät ebenso an den ungarischen Fotografen Gabor (dem später berühmten realen
Brassai nachempfunden), der sie in den Chamäleon Club einführt, Es waren die
wilden 20er Jahre und in Paris herrschte die freizügige Bohème besonders ausschweifend.
Dieser Nachtclub war berühmt für den Tausch der Geschlechterrollen, wo Männer in
Kleidern umherliefen und Frauen sich offen lesbisch geben konnten.
Und hier nun entdeckte Lou ihre wahre sexuelle Identität, die sie nicht zuletzt damit
auslebte, dass sie als tanzender Matrose eine Meerjungfrau umgarnte. Nebenher erwuchs ihre
bald auch professionell betriebene Leidenschaft für Autorennen und sie entwickelte sich
auch ansonsten zu einer vielversprechenden Olympia-Hoffnung Frankreichs. Bis ein
eifersüchtiger Staatsbediensteter der neue Liebhaber der Meerjungfrau! - dafür
sorgte, dass Lou wegen unmoralischer Umtriebe jegliche öffentliche Sportbetätigung
untersagt wurde.
Was in den 30er Jahren für eine ominöse Einladung aus dem Deutschen Reich sorgte: Adolf
Hitler wollte die stählerne Sportsfrau bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin sehen.
Hier gibt es nicht nur eine der faszinierendsten Passagen des Romans, die Begegnung hat
auch weitreichende Folgen. Zumal die junge Frau mit einer anderen Rennfahrerin erstmals
wirkliche Liebe erlebt, nur um sehr bald heftig enttäuscht zu werden.
Wie Lou dann immer mehr ins Böse abdriftet, bleibt erahnbar und doch ein Rätsel. Was
aber auch an den Deutungen derjenigen liegt, aus deren Sicht Lous Geschichte erzählt
wird. Allen voran die frustrierte ehemalige Oberschullehrerin Nathalie Dunois, die sogar
eine äußerst eigenwillige Biographie über Lou Villar im Eigenverlag herausbringt.
Ebenso subjektiv gefärbt wie die Dokumente der anderen Chronisten, die ähnlich zwischen
Ernst, Häme und Klatsch schwanken. Unter ihnen übrigens auch der zynische hungerleidende
Erotik-Schriftsteller Lionel Maine, unschwer als Ebenbild von Henry Miller zu erkennen.
Lous Leben aber wendet sich endgültig zum Fatalen, ja zum Bösen, als sie, die sich
selbst zunehmend als Wiedergeburt der patriotischen Jeanne d'Arc sieht, zur
Landesverräterin wird. Offenbar aus Rache verrät sie den Nazis Geheimes über die
Maginot-Linie und anderes mehr. Um dann während der Besatzungszeit sogar zu einer sehr
effektiven Mitarbeiterin der Gestapo in Paris zu werden, wobei sie in ihren Verhören
spezielle Foltermethoden bevorzugt.
Von der verruchten Stimmung der Zwischenkriegsjahre bis hin zu Elend, Verrat und Heldentum
in den Kriegsjahren zieht sich der spannungsvolle Bogen, von der einfachen
Klosterschülerin bis hin zur Folterschergin der Nazis, die 1944 von der Résistance
erschossen wurde. Ein schillernder und in manchen Passagen schier unglaublicher Roman. Und
doch ganz nah an realen Personen und Ereignissen, was ihn um so atemberaubender macht.
Fazit: ein außergewöhnlicher Roman, der außerdem unbedingt verfilmt gehört.
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