JOHN IRVING: „STRAßE DER WUNDER“


In gewisser Weise ist John Irving ein Wiederholungstäter, denn in seinen durchweg weltweit erfolgreichen Romanen kehren gewisse Typen und Konstellationen immer wieder. Selten jedoch hat sich der US-Autor so genüsslich gerade über diese Marotte lustig gemacht wie in seinem neuen Werk unter dem Titel „Straße der Wunder“.
Einmal mehr steht im Mittelpunkt ein Junge, der zum berühmten Schriftsteller wird, und dieser Juan Diego Guerrero ist nun zwar stolzer Amerikaner, seine frühen Jahre aber verbrachte er auf einer riesigen Müllkippe im mexikanischen Oaxaca. Im wesentlichen sind dies auch die beiden Hauptschauplätze des überschäumend fantasievollen Epos und als zwei sehr verschiedene Leben empfindet es auch der jetzt 54-Jährige.
Ungern nur nimmt er die verschriebenen Betablocker wegen des angegriffenen Herzens, denn sie verhindern etwas, das ihm besonders wichtig ist, das Träumen. Sehr stark lebt er in den Erinnerungen und kehrt ständig in sie zurück. Weshalb die ebenso opulente wie vielschichtige Geschichte mit ihrem vielköpfigen hinreißenden Personentableau vor allem immer wieder in das Jahr 1970 nach Oaxaca zurückführt.
Da lebt der 14-Jährige mit seiner innig geliebten Schwester Lupe auf der ständig irgendwo brennenden Müllkippe. Die ein Jahr jüngere Lupe hat einen Sprachfehler, so dass nur Juan Diego sie verstehen kann. Und er übersetzt, was sie von sich gibt und mindestens als wundersam gilt. Die eigenwillige Göre kann nämlich Gedanken lesen und zuweilen auch die Zukunft vorhersagen.
Während sich Juan Diego an all den auf die Kippe geworfenen Büchern als Autodidakt viel Bildung und auch Englisch anliest, kümmert sich beider Mutter aus Zeitgründen kaum um sie. Einerseits arbeitet die attraktive Esparanza als Prostituierte, andererseits wirkt sie als Putzfrau für die Jesuiten. Ob Deponie-Chef Rivera der Kindesvater ist, bleibt offen, immerhin behandelt er die Geschwister gut. Ist allerdings auch der Unglücksrabe, der Juan Diego mit dem Truck über den rechten Fuß fährt, so dass dieser für den Rest seines Lebens verkrüppelt bleibt.
Doch die Mutter verlieren die Kinder bald und das auf arg wundersame Weise. Beim Reinigen der überdimensionalen Madonnenstatue in der Jesuitenkirche trägt sie ein offenherziges Kleid und da – so meinen die Geschwister gesehen zu haben – sorgt ein plötzlicher bitterböser Blick aus den Augen der „Monster-Madonna“ für einen tödlichen Herzschlag.
Ohnehin spielen Glaube, Aberglaube und die katholische Kirche eine starke Rolle im gesamten Roman – und kommen dabei gar nicht gut weg. Wenngleich es der Jesuitenpater Pedro ist, der Juan Diego fördert, und die beiden Waisen erst mal im kirchlichen Waisenhaus unterkommen. Um dann eine obskure Karriere als Gedankenleserin und – trotz des Krüppelfußes! - als Hochseilartist beim „Circo las Maravillas“ (= Wunder) zu machen.
Für Juan Diego führt der Weg dann jedoch nach Iowa, USA, als ihn Edward und Flor adoptieren und damit die Weichen für seine Zukunft als gefeierter Romanautor stellen. Diese Beiden aber sind ein besonders skurriles Paar, denn der schwule Edward lernte die transsexuelle Hure Flor kennen, als er als junger Priesteranwärter zu den Jesuiten von Oaxaca kam. Ihre Liebesgeschichte rührt allerdings nicht nur wegen der außergewöhnlichen Umstände besonders an.
Nun jedoch die entscheidende Klarstellung: natürlich erzählt der virtuose John Irving die vielfach verschachtelte Geschichte ganz und gar nicht gradlinig. In gewohnt brillanter Dramaturgie springt er immer wieder von 1970 in die Gegenwart zur Jahreswende 2010, als er ein Gelübde einlösen will. Es geht darum, das Grab eines im Weltkrieg gefallenen Vaters eines verstorbenen Freundes auf den Philippinen zu besuchen.
Auf der Reise wirkt Juan Diego häufig entrückt und ist wirklich oft mit den Gedanken auf Wanderschaft in die Jugend, da er mit der konträren Einnahme von Betablockern und Viagra experimentiert. Letztere wiederum braucht er wegen Miriam und Dorothy, Mutter und Tochter, beide sehr attraktiv. Und sie manipulieren ihn nicht nur nach Herzenslust, der im echten Leben eher gehemmte Schriftsteller lässt sich mit folgsamer Wonne darauf ein – mit beiden. Was zu einigen herzhaften erotischen Szenen führt, zumal die Damen irgendwie nicht ganz von dieser Welt zu sein scheinen.
Um so fesselnder liest sich dann das tragische Ende der faszinierenden Lupe wie auch das des Liebespaares Edward und Flor. Das tierische Element aber fehlt gleichfalls nicht in diesem mit allen Ingredienzen eines Irving-Romanes gesegneten Epos, nur sind es diesmal die Löwen des Circus. Man sollte man im Übrigen nicht zu fromm sein, um dieses literarische Feuerwerk richtig genießen zu können, denn Juan Diego hat „weiterhin eine Rechnung offen mit der katholischen Kirche und einigen ihrer sozialen und politischen Gepflogenheiten.“
Fazit: der Meister präsentiert sich in Bestform und hat mit „Straße der Wunder“ ein grandioses Meisterwerk geschaffen.

# John Irving: Straße der Wunder (aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog); 777 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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