OWEN SHEERS: I SAW A
MAN
Der Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte, ereignete sich an einem
Samstagnachmittag im Juni, kurz nachdem Michael Turner in der Annahme, es sei
niemand da das Haus der Nelsons durch die Hintertür betreten hatte. Was
jedoch passierte, das bleibt lange unerwähnt in dieser Geschichte, die an einem besonders
heißen Tag im bürgerlichen Londoner Stadtteil Hampstead Heath beginnt.
I saw a Man lautet der Titel des spanennden zweiten Romans von Owen Sheers
nach einer Zeile aus einem Gedicht von Hughes Mearns. Und es sei gleich klar gestellt,
dass Michael Turner kein krimineller Eindringling ist, vielmehr seit einigen Monaten
Nachbar der Nelsons und längst zum engen Freund geworden. Er weiß nicht, warum weder
Josh noch Samantha trotz offener Tür offenbar außer Haus sind. Aber er will ja auch nur
einen speziellen Schraubenzieher zurückholen.
Doch die Handlung führt nun erst mal zurück in die nähere Vergangenheit, in der Michael
mit der Auslandsjournalistin Caroline nach der Eheschließung in der walisischen Provinz
gelebt hat: die glücklichste Zeit meines Lebens. Auch dank seines höchst
erfolgreichen jüngsten Roman konnten die Beiden all das unbeschwert genießen. Bis
Caroline das journalistische Jagdfieber erneut kitzelte und sie einen Auftrag für eine
Recherche in Pakistan annahm.
Wo sie prompt eines von mehreren ausländischen Opfern eines US-Drohnenangriffs wird, der
einem vermuteten Terroristenanführer galt. Michael als Witwer, der mühsam wieder zurück
ins Leben findet, geht zurück nach London, wo er das Glück hat, auf die Nelsons als
ideale Nachbarn zu stoßen. Mit Josh, dem Banker von Lehman Brothers, versteht er sich
schnell ähnlich gut wie mit dessen Frau und die beiden kleinen Töchter vergöttern ihn
schon bald regelrecht.
Allerdings spürt Michael durchaus, dass das Eheglück der Nelsons angespannt ist, nicht
zuletzt, weil die studierte Fotografin Samantha wegen der Kinder daheim bleiben muss. Josh
aber ist zum Workaholic mutiert, der nicht nur zu viel trinkt. Doch nicht nur er wird von
schweren Schuldvorwürfen geplagt, als das vom ersten Satz her unterschwellig angedrohte
schicksalhafte Ereignis eintritt.
Auch Michael jagen die Schimären von Schuld und Lügen, mehr noch aber gilt dies für
einen dritten Protagonisten im fernen Las Vegas: Major Daniel McCullen. Er ist der Mann,
der die Hellfire-Raketen von der Drohne aus abschoss, weil er die Zielperson zu sehen
gemeint hatte. Und er wird mit dieser Schuld am ferngelenkten Tod der Unschuldigen so
wenig fertig, dass er zum Säufer wird und Job und Familie verliert.
Allerdings zerbricht auch die Familie Nelson, Michael jedoch sucht den einzigen Ausweg,
den er für sich kennt: das Geständnis seiner Mitschuld fließt in ein neues Buch ein.
Das Alles überzeugt durch souveräne Prosa und eine ebensolche Dramaturgie, aber auch der
realistische Hintergrund des Geschehens sorgt für einen Lesegenuss, der bis zuletzt
fesselt.
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