MAUDE JULIEN: „DER WILLE MEINES VATERS“


Louis Didier ist Mitte 30 und als Autohändler zu Vermögen gekommen, als er 1936 den ersten Schritt zu einem lang gehegten wahnwitzigen Plan in die Tat umsetzt. Er adoptiert die sechsjährige Tochter einer Hungerleiderfamilie. Wie versprochen sorgt er dafür, dass die blonde hellhäutige Jeannine eine hervorragende Schulausbildung bekommt und dann für den Lehrerberuf studiert.
Danach setzt er Teil 2 seines Planes um, heiratet Jeannine und zeugt mit ihr jene beabsichtigte Tochter Maude, die wie berechnet am 23. November 1957 geboren wird. Drei Jahre später schließlich beginnt Teil 3 des Planes: aus seinem Kind einen Übermenschen zu machen. Und das ist der Beginn eines unfassbaren Märtyriums für das Kind, das von nun an im eigens dafür erworbenen Herrenhaus in Nordfrankreich eingesperrt, isoliert und abgerichtet wird.
Wie das Mädchen diese Kindheit und Jugend durchlitten und überstanden hat, das schildert es selbst in dem autobiographischen Bericht unter dem Titel „Der Wille meines Vaters. Wie ich seinem Wahn entkam“. Den hatte der hünenhafte Despot in der Tat, denn das hochrangige Mitglied einer okkulten Freimaurerloge wollte sie zu etwas Besonderem drillen gegen die dunklen Mächte.
So wie er ihr schon als Kind eintrichterte, das Dritte Reich werde wiederauferstehen und die Weltherrschaft erringen. Doch Didier verehrte die Härteideale dieser Herrenmenschen nicht nur, er ließ sie ebenso kaltherzig wie unnachgiebig von nun an dem Kind angedeihen. Die absolut hörige Mutter war keinerlei Hilfe sondern von ebensolcher Gefühlskälte als Werkzeug Didiers von klein auf. Zugleich war es fatalerweise völlig legal, dass sie mit ihrer Ausbildung den Schulunterricht daheim selbst vornahm.
Maude drückt es nüchtern so aus: „Mehr noch als die Stunden bei meiner Mutter fürchtete ich die bei meinem Vater.“ Statt Spielen oder Freundinnen war Einsamkeit, Schmerz und extrem strikte Reglementierung angesagt. Kälte sollte abhärten, Körperwäsche galt als Verweichlichung und wurde – auch von den Eltern – geradezu unglaublich selten praktiziert. Disziplin wurde mit äußerster Härte anerzogen, so musste die Kleine oft stundenlang gerade sitzen ohne Bewegung oder sich gar anzulehnen. Radfahren, Schwimmen und andere Fähigkeiten wiederum wurden auf die brutale Tour anerzogen.
Mit etwa acht musste sie nicht nur schuften wie eine Sklavin, der Tyrann richtete sie auch auf Alkohol ab. Die absurde Idee dabei – es gelte auch unter Drogeneinfluss den klaren Verstand und den eisernen Willen aufrecht zu erhalten. Immerhin bescherte dieser Irrsinn Maude Julien die Leber einer Säuferin, ohne sie allerdings süchtig werden zu lassen.
Und als wäre das Alles nicht schon entsetzlich genug gewesen, gab es auf dem Herrensitz auch noch das Faktotum Raymond, das jede Gelegenheit nutzte, um das Mädchen unsittlich zu befummeln. Weitaus schlimmer folgten später jedoch die düsteren Ideen des Vaters, dass sie „über den Tod meditieren“ müsse. Dazu brachten die Eltern sie in den feuchten Keller, wo sie inmitten eines lichtlosen Gemäuers und von Ratten umwieselt stundenlang still ausharren musste.
Von all diesen unmenschlichen seelischen und körperlichen Torturen zu lesen, ist stellenweise schier unerträglich. Doch noch übler ist ja, dass es sich nicht um einen mit Grausen verfassten Roman handelt, denn all das hat Maude Julien tatsächlich durchgemacht, Dafür, dass sie dennoch nicht völlig verrückt geworden ist, nennt sie drei entscheidende Umstände.
Erlaubt war in dieser Hölle die Literatur, die ihr nicht nur zu dem für erforderlich gehaltenen Wissen sondern auch zu Fantasiefiguren aus Romanen als imaginären Gesprächspartnern verhalf. Ungleich wichtiger noch für die spätere psychische Gesundung – die allerdings viele Jahre und mehrere Psychiater brauchen sollte – waren jedoch die Tiere auf dem Anwesen, allen voran Schäferhündin Linda.
Dass Maude im Gegensatz zur Mutter aber dem mächtigen Guru nicht verfiel, hat dieser selbst verursacht: die Angst vor seiner gruseligen Welt wie auch vor seinem paranoiden Verhalten war einfach zu groß, als dass sie über diese Schwelle hatte ziehen können. Der Überlebenskampf jedoch, um dieser Hölle schließlich doch noch zu entkommen, liest sich ebenso beklemmend und fesselnd wie all die Schilderungen zuvor.
Um so erstaunlicher aber auch konsequent ist Maude Julien späterer Lebensweg, denn nach den Jahren der schweren Nachwirkungen studiert sie selbst Psychologie und arbeitet heute als Psychotherapeutin vor allem für Opfer von Paranoiden und Sekten. Wenn sie heute zurückblickt, stellt sie fest: „Wir waren eine Sekte, die aus drei Personen bestand.“ Fazit: ein einzigartiger, hervorragend mit subtiler Nüchternheit geschriebener Lebensbericht, der tief unter die Haut geht und nur schwer zu ertragen ist.

# Maude Julien: Der Wille meines Vater. Wie ich seinem Wahn entkam (aus dem Französischen von Anna und Heinrich Leube); 301 Seiten; Knaur Verlag, München; € 19,99


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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