PETER LONGERICH: „HITLER. BIOGRAPHIE“


Nach den Nazi-Größen Himmler und Goebbels hat sich der Historiker Peter Longerich jetzt den Führer selbst vorgenommen und überschreibt das großvolumige Werk schlicht mit „Hitler. Biographie“. Also noch ein Buch über den Diktator, wo es doch eine Fülle biographischer Schriften dazu gibt?
„Wenn das der Führer gewusst hätte“ hieß es vor allem in der ersten Nachkriegszeit immer wieder seitens Ahnungsloser, die an Hitler auch gute Seite zu sehen meinten und die Schuld für die NS-Verbrechen anderen NS-Drahtziehern zuschoben. Nicht nur diese Mär widerlegt der Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London gründlich.
Ähnlich seinem Kollegen Volker Ullrich („Adolf Hitler“ Bd. 1) personalisiert Longerich das Wirken und die einzigartige Rolle des Autokraten und steht damit im Gegensatz zu den bisherigen Heroen der Hitler-Biographien Mommsen und Kershaw. Hatten diese den Emporkömmling mehr als Produkt der Zeitumstände und charismatischen Volksverführer an der Spitze eines machtgierigen Machtkartells gesehen – und Hitler damit quasi auch marginalisiert – kehrt insbesondere Longerich dessen extreme Persönlichkeit heraus, die in einzigartiger Weise das gesamte Regime allein auf sich ausrichtete.
Ohne nennenswerte tiefenpsychologische Deutungen kehrt Longerich entscheidende Charaktermerkmale heraus, stellt eingangs aber auch klar, dass der gescheiterte Habenichts aus Braunau am Inn bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg „ein Niemand“ war. Die hehren Deutungen seiner Prägung während der Soldatenzeit waren nichts als nachträgliche Selbststilisierungen. Grundlegende und bereits vorhandene negative Eigenheiten waren allerdings seine emotionale Unterentwicklung gepaart mit extremer Bindungsunfähigkeit.
Für den ebenso zielstrebigen wie skrupellosen Aufstieg aber auch später als Diktator von größter Bedeutung waren Persönlichkeitsmerkmale wie die übergroße Furcht vor Beschämung, die Niederlagen für ihn gänzlich unerträglich machten, während ihn vermeintliche oder tatsächliche Bedrohungen zu aggressivster Verfolgung anstachelten. Doch erst rechtsextreme völkische Kreise vor allem der Reichswehr setzten bei dem unbedeutenden Mitläufer das politische Machtstreben in Gang, als sie ihn in München zum Propagandisten ausbildeten, um die Deutsche Arbeiterpartei (Vorläufer der NSDAP) auf Linie zu halten.
Und der hochtalentierte Agitator ergreift die Chance und immer wieder kommt Longerich in seinen Ausführungen um das Wort „skrupellos“ nicht herum. Fundiert und sehr detailliert beschreibt er den Aufstieg mit dem raffinierten Coup der Machtergreifung, die er als ganz persönliches Meisterwerk Hitlers erkennen lässt. Doch es war nicht sein Charisma und auch nicht eine allumfassende Volksbegeisterung, die Hitler in eine rasant wachsende Machtfülle katapultierten.
Vielmehr verstand es Hitler, ganz neue Herrschaftsstrukturen zu schaffen. Mit viel Kalkül und Instinkt schnitt er das System auf die unumschränkte Autokratie zu, deren Herrschaft in höchstem Maße auf ihn personalisiert war. Doch er richtete diese Führung nicht nur konsequent auf seine Person zu, denn zu den erhellendsten Erkenntnissen des Biographen gehört die, in welchem Ausmaß Hitler Angst vor Kontrollverlusten hatte. Weshalb er in so noch nicht gekanntem Umfang das war, was man auf Neudeutsch heute einen Kontroll-Freak nennt.
Aus vielen Detailforschungen und Quellen belegt Longerich, in welch erstaunlichem Maße der Führer wie auch später der oberste Kriegsherr selbst Detailfragen bis ins politische Alltagsgeschäft hinein persönlich dirigierte. Zugleich erlaubte die autokratische Machtposition – ohne jegliche konkurrierende Machtzentren bis zum Kriegsende hin – dem gefühlskalten Mann ohne Privatleben eine verblüffende Flexibilität. Mit der reagierte er oft erstaunlich auf Krisenmomente, war zugleich aber gänzlich unempfänglich für abweichende Meinungen, während er andererseits Widerstände mit ähnlicher Vernichtungsmanie verfolgte wie die Juden.
Longerichs Verdienst ist vor allem, dass die stringente Charakterisierung Hitlers und seines Systems der Herrschaftsausübung deutlich erkennen lässt, warum das NS-Regime bis zum Kriegsende derartig wenig auf konkrete Widerstände stieß. Hitler hatte sein System so allesdurchdringend aufgebaut, dass er alle Fäden in der Hand hielt und auch die Zustimmung des Volkes schlichtweg nicht mehr brauchte.
Noch wichtiger erscheint jedoch die einschlägig belegte Annahme, dass ohne die Überfigur Hitler der von dieser mit großem Geschick aufgebaute NS-Machtapparat Diktatur und Weltkrieg nicht stattgefunden hätten. Also: ohne Hitler kein Drittes Reich.
Fazit: auch wenn die Vita Adolf Hitlers hinlänglich bekannt ist und es diesbezüglich keine wirklich neuen Erkenntnisse gibt, bringt die besondere Ausdeutung seiner Persönlichkeit und deren Auswirkung auf sein Herrschaftswesen einen hoch zu schätzenden Zugewinn für den Gesamtblick auf diese Ära. Wer sich mit diesem Abschnitt der Weltgeschichte eingehend befasst, kann auf dieses hervorragend geschriebene Werk nicht verzichten.

# Peter Longerich: Hitler. Biographie; 1296 Seiten, 15 Abb.; Siedler Verlag, München;

€ 39,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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