TANJA KINKEL: „SCHLAF DER VERNUNFT“


Angelika Limacher, 28, ist glücklich verheiratet mit dem Zahnarzt Justus und lebt mit ihm und den Zwillingssöhnen im beschaulichen Bamberg. Da erhält sie überraschend einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wird, ihre Mutter werde vorzeitig aus der Haft entlassen.
Es ist das Jahr 1998, die RAF (Rote Armee Fraktion) hat ihren Gewaltverzicht und ihre Auflösung erklärt und Bundespräsident Roman Herzog begnadigt die noch inhaftierten Terroristen. Darunter auch Martina Müller, Angelikas Mutter, die vor 20 Jahren wegen eines Anschlages mit vier Toten und einem Schwerverletzten zu viermal Lebenslänglich verurteilt worden war.
Was damals geschah und was es für alle Betroffenen bis auf den Tag bedeutet, daraus hat Erfolgsautorin Tanja Kinkel unter dem Titel „Schlaf der Vernunft“ ein Stück Literatur geschaffen, das man wohl als einen Schlüsselroman zum sogenannten Deutschen Herbst 1977 und überhaupt zum deutschen Terrorismus ansehen darf. Wobei nicht nur die Konfrontation zwischen Mutter und Tochter nach 17 Jahren Funkstille eine Herausforderung darstellt.
Seit jenem Überfall auf den Wagen des Justistaatssekretärs Werder, bei dem dieser wie auch sein Chauffeur und zwei Personenschützer umkamen, während ein weiterer Polizist zum Invaliden geschossen wurde, leiden dieser wie auch die Hinterbliebenen unter den Ereignissen. Da schmerzt neben dem Verlust geliebter Menschen auch die Ungewissheit über die wahren Beweggründe und den genauen Tathergang auch noch 21 Jahre danach.
Und führen zu der galligen Feststellung: durch die Begnadigungen gibt es Ex-Terroristen, die nun in Freiheit weiterleben können, Ex-Opfer aber gibt es nicht, die einen bleiben tot und das Leid der anderen verheilt nie. Um so fesselnder sind die Begegnungen Angelikas mit der entfremdeten Mutter, die das Mädchen als Vierjährige aufgegeben hat, weil ihr der bewaffnete Kampf gegen das „Schweinesystem“ wichtiger war.
Tanja Kinkel hat intensiv recherchiert und taucht tief ein in das Innenleben der Terroristen. Neben der fiktiven Martina Müller agieren hier einige der wichtigsten echten Akteure und viele der eingeflochtenen Ereignisse sind tatsächlich so geschehen. In den Konfrontationen beruft sich die Mutter als verbohrte Verehrerin von Holger Meins (1941-1974) auf dessen RAF-Grundsatz: „Der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch, und so haben wir uns mit auseinanderzusetzen.“
Mit Bitterkeit muss die Tochter erkennen, dass die 48-Jährige keinen Gedanken an Reue vergeudet. Die Selbstgerechtigkeit der Terroristen und die grenzenlose Nachsicht mit sich selbst und ihrem Scheitern ziehen sich derartig durch die Rückblenden wie auch die Haltung am offiziellen Ende der RAF, dass es einem angesichts von so viel Verblendung schier den Atem verschlägt.
Doch der Roman greift tiefer als nur in Handlungen und Wortgefechte, denn die Autorin stellt in wechselnden Zeitebenen auch den durchaus exemplarischen Weg einer Tochter aus gutbürgerlichen Verhältnissen in den terroristischen Untergrund nach. Martina Müller als Tochter eines Gymnasialdirektor erlebt als 17-Jährige während einer Klassenfahrt nach Berlin exakt jenen so folgenschweren 2. Juni 1967 mit, als Schah-Anhänger – die sogenannten „Jubel-Perser“ - erst friedlich demonstrierende Studenten verprügeln und wie am selben Tag der harmlose Mitläufer Benno Ohnsorg von einem Polizisten erschossen wird
Wie das ebenso verständnislose wie rabiat reagierende „System“ dann Radikalisierung und Kriminalisierung der aufbegehrenden 68er-Generation erst richtig anheizt und wie auch die Gerechtigkeitsfanatikerin Martina Müller in wenigen Jahren bis in den Kernbereich des rücksichtslos gewalttätigen Terrorismus abrutscht, das ist brillant dargestellt.
Dass radikaler Protest auch ohne Blut an den Händen möglich war, dafür steht Martina Müllers frühere Freundin Renate, deren allerdings auch nicht ganz schimmelfreier Weg sie zu den Grünen und bis in den Bundestag gebracht hat, gehört zu den ungemein wichtigen weiteren Handlungssträngen. Die Schizophrenie der Linksextremen, die Menschen die Menschlichkeit nahmen und sie zu Zielscheiben degradierten, offenbart sich in einem noch immer verblüffenden Schwenk auf jene RAF-Terroristen, die – wie auch eine von Martina Müllers Mittäterinnen – sich in die DDR absetzten und von der Stasi ein bürgerliches Leben einrichten ließen.
Tanja Kinkel hält in ihrer raffinierten Dramaturgie so manche Überraschung bereit, bleibt dabei aber stets hart an der Realität. Wenn dabei mal scheinbar naives Teenager-Denken über die Ungerechtigkeiten der Welt oder abstruses ideologisches Gewäsch den Kopf schütteln lassen, so darf der Leser doch gewiss sein: das ist ganz und gar authentisch. Fazit: ein grandioses Stück Literatur zu einem der brennendsten Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte, wertvoll, aufschlussreich und bis zuletzt fesselnd.

# Tanja Kinkel: Schlaf der Vernunft; 448 Seiten; Droemer Verlag, München; € 19,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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