TIM WINTON: „SCHWINDEL“


Mit einem mehr als riesigen Kater seiner Hauptperson Tom Keely lässt der australische Erfolgsautor Tim Winton seinen neuen Roman „Schwindel“ begonnen. In galliger und ungeheuer treffsicherer Prosa entfalten sich Keelys miserable Lebensumstände, die weit mehr sind als nur eine deftige Midlife-Crisis.
Er war ein überzeugter und angesehe ner Umweltaktivist, bis zu einem von ihm selbst vom Zaun gebrochenen Skandal. Die Feinheiten werden nur noch umrissen, denn Keely hat sich irgendwie mit seiner Misere von gescheiterter Ehe sowie dem Verlust von Job und Ruf abgefunden. Nun vegetiert er in seinem Appartement im 10. Stock des schäbigen Wohnturmes „Mirador“ in der nicht minder schäbigen westautralischen Hafenstadt Freemantle vor sich hin.
Reichlich Alkohol und jede Menge Pillen gegen die Folgeschmerzen bringen ihn auch körperlich an die Grenzen des Verfalls und der Endvierziger schafft in all seiner Verbitterung und Verwahrlosung zuweilen kaum noch die kurzen Wege zum nächsten Supermarkt. Und nun steckt er gerade mal wieder in den heftigen Nachwehen eines Katers, als er im Aufzug von einer Frau angesprochen wird, die offenbar auf derselben Etage eingezogen ist.
„Er lebte schon zu lange in argwöhnischer Isolation“, hatte er eben noch sinniert, als ihn diese Frau mit seinem Namen anspricht. Trotz seines wild wuchernden Bartes hatte sie ihn erkannt – als Nachbarn aus der gemeinsamen Jugendzeit in Blackboy Crescent. Damals allerdings war es eher umgekehrt: immer wieder kam diese Gemma Buck zum Haus seiner Eltern gerannt, wenn ihr versoffener Vater erneut gewaltsam ausflippte.
Es war Keelys alter Herr, ein handfester Seelsorger, der jeweils für Abhilfe sorgte. Dass sich nun auch beim Sohn trotz des umnebelten Verstandes so etwas wie eine lange vergessen geglaubte Regung von Verantwortungsgefühl regt, liegt aber weniger an Gemma. Wer ihn nämlich sofort seltsam betört, ist der kleine verstörte Kai, ihr sechsjähriger Enkel. Ihn musste Gemma in Obhut nehmen, weil ihre Tochter, Kais Mutter, wegen Drogendelikten und anderem mehr im Knast sitzt.
Alsbald setzen der so gefährdet erscheinende sensible Junge aber auch die alte Jugendfreundin Beschützerinstinkte bei dem Gestrandeten in Gang. Mühsam beginnt er, sich um die Beiden zu kümmern und stolpert damit auch in eine Art Selbstheilung hinein. Dem vielfach ausgezeichneten Autor gelingt es auch diesmal wieder, eine zutiefst menschliche Konstellation so zu glaubhaftem Leben zu erwecken, dass es stets berührt und dennoch in keinem Moment sentimental wird.
Was Familie, Verantwortungsgefühl und Miteinander selbst in schier auswegloser prekärer Lage bewirken können - dieser Roman lässt es auf beeindruckende Weise erahnen. Zum besonderen Genuss auch in der deutschen Übertragung des souveränen Stilisten trägt im Übrigen die sehr lobenswerte Übersetzung durch Klaus Berr bei.

# Tim Winton: Schwindel (aus dem Englischen von Klaus Berr); 477 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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